Seite - 298 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Brecht: „Der Roman steuert in jeder Szene von Anfang bis zum Ende auf diesen
Weltmeisterschaftskampf in Kuba zu, an dem die Interessen aller Romanfiguren
mehr oder weniger hängen.“483 In der topografischen Wahl Kubas schillert ein
boxhistorisches Duell durch, um das sich zahllose „Gerüchte“484 gebildet haben:
1915 trat der Boxer Jack Johnson, der 1908 als erster afroamerikanischer Sport-
ler Weltmeister in der Geschichte des Schwergewichtsboxens wurde, in einem
auf 45 Runden angesetzten Kampf in Havanna auf die „weiße Hoffnung“485
Jess Willard; in einem „undurchsichtigen Zusammenspiel von Korruption und
Mord androhung“486 wird Johnson von Willard Knock-out geschlagen, obwohl
Johnson den Kampf bis zur 26. Runde dominiert; später behauptet der deklas-
sierte Weltmeister, man hätte ihm Geld geboten. „Den Beweis für seine Version
liefert eines der berühmtesten Fotos der Boxgeschichte: Es zeigt einen am Bo-
den liegenden Champion, der sich zum Schutz vor der hochstehenden kubani-
schen Sonne beide Fäuste vor die Augen hält.“487 Klabund schreibt dazu in Der
Boxer (und verändert nebenbei den Erzählfokus, indem er es mit der histori-
schen Wahrheit nicht so genau nimmt):
Sie kennen den Neger Johnson? Ich behaupte, daß er der größte Boxer ist, der
je gelebt hat, und der ehrlichste und fairste Kämpfer dazu. Dennoch hat er die
Weltmeisterschaft in Amerika abgeben müssen, weil es den Amerikanern uner-
träglich war, daß ein schwarzer Mann über die weiße Rasse siegen sollte. Mit dem
Revolver in der Hand hat man ihn gezwungen, auf die Weltmeisterschaft in einem
fiktiven Kampf zu verzichten. Man hat ihm 40 000 Pfund in Gold auf den Tisch
gezahlt, er hat das Gold mit seiner riesigen Pratze in einen Sack geschaufelt, hat
gesagt: „Schwarzer Mann kein Recht auf der Welt“ und ist gegangen.488
Brecht geht noch einen Schritt weiter. Er synchronisiert das von Kontingenz
geprägte Boxen mit den fiebrigen Ausschlagbewegungen der Börsenkurse. Zu
Beginn von Das Renommee hält Carrare als Gewinner der Europameisterschaft
Ausschau nach einem leicht bezwingbaren Gegner, der einzig zum Verlieren in
den Ring steigt; unversehens findet sich Carrare jedoch in einem Kampf um die
Weltmeisterschaft mit dem „gefürchteten Jack“ 489 verstrickt. Die Sphären von
483 Brecht 1989a, S. 430
484 Kosmopolit 1927, S. 86
485 Maase 2007, S. 102
486 Kohtes 1999, S. 50
487 Ebd., S. 51; vgl. auch Meisl 1928, S. 87; Kosmopolit 1927, S. 86; Meinhardt 1996, S. 116f
488 Klabund 1998, S. 300
489 Brecht 1989a, S. 424; vgl. ebd., S. 429: „gedacht ist an Dempsey.“
298 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440