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Natur ermöglicht.“263 In der Erzählung vom Riesen Agoag rückt der anthropolo-
gische Dualismus von Körper und Geist exemplarisch ins Diskutable. Der Held
der Erzählung sucht existenziellen Sicherheitszugewinn im Sport:
Sein Leben war nicht glücklich; aber er ließ nicht ab, den Aufstieg zur Kraft zu
suchen. Und weil er nicht genug Geld hatte, in einen Kraftverein einzutreten, und
weil Sport ohnedies nach neuer Auffassung nicht mehr das verächtliche Talent
eines Leibes, sondern ein Triumph der Moral und des Geistes ist, suchte er diesen
Aufstieg allein.264
Das zeitmarkante Hintergrundrauschen, in dem die leibseelischen Diskurse
in „nüchternen Funktionskörper[n]“265 dunkel aufgehoben scheinen, versucht
Musil in ein Diskursgewebe von Worten, Einstellungen und Taten zu fassen.
Die Figur des Boxers wird dabei aber nicht als Gliederpuppe betrachtet, in der
gleichsam Schaltkreise wirken. Musil entkoppelt den Sport, der sich, so der Au-
tor in Als Papa Tennis lernte, aus „naiven körperlichen Anstrengungen“266 zu-
sammensetze, von hygienischen, körpermonotonen und effizienzbetonten Ziel-
setzungen – und hebt dadurch jene Bereiche des Sportdiskurses hervor, durch
die eine Möglichkeit für „hoch sensibilisierte Ich-Erfahrung“267 geschaffen
werden. Man müsse, wird im Mann ohne Eigenschaften das Weimarer Grund-
gefühl unreflektierter Körperdominanz höhnisch in die Worte Walters zurück-
projiziert, man müsse es schätzen, „wenn ein Mann heute noch das Bestreben
hat, etwas Ganzes zu sein“268. Den häufig axiomatisch behaupteten „Einklang
von Körper und Geist“269, der sich besonders in der Figur des Boxers zeige,
irritiert Musil, genauso wie sich der Autor in den Tagebüchern über den „Kör-
pergeist“270 mokiert, hinter dem sich das emphatische Bemühen um Stärkung
des Nur- Physischen verbirgt271: „Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch ei-
ner ganzen Welt gegenüber“272, lautet dazu der Kommentar im Mann ohne Ei-
genschaften, „sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen
263 Baur 1980, S. 110
264 Musil 1978a, S. 531
265 Müller 2004, S. 125
266 Musil 1978h, S. 690
267 Baur 1980, S. 109
268 Musil 1989a, S. 217
269 Theobaldy 1976, S. 60
270 Musil 1976a, S. 557
271 Vgl. Rothe 1981, S. 139f; Fleig 2008, S. 202
272 Musil 1989a, S. 217 335
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440