Seite - 351 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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dertunderste und beginnt damit eine neue Reihe: man wird in dieser Art beim
Training von seinem Körper gleichsam an der Nase weitergeführt.392
Dem Kult um die Möglichkeiten systematischer Trainingsarbeit erteilt Musil
in Der Riese Agoag und im Mann ohne Eigenschaften eine klare Absage; nicht
nur Ulrichs übertriebener Trainingsfleiß – er betrachtet seine Studien als eine
„Abhärtung und Art von Training“393 sowie „geistige Entbehrung“394 – reizt
den Autor zu Kritik, Karikatur und Klarstellung. In Der Riese Agoag strebt der
Held einen Identitätsgewinn durch verschärftes Training an, das aus Spazieren
auf Zehenspitzen, waghalsigen Verrenkungsübungen und kraftökonomisch for-
ciertem Kleiderwechsel besteht; der Abusus der Droge Training ist, wie bereits
oben zitiert, offensichtlich.395 Musil geht aber noch einen Schritt weiter. Das
Ausgeliefertsein an Tempo, Technik und – unerlässlich in einem als krisenhaft
empfundenen Alltag – Taktik verzerrt der Autor zu einem grotesken Bild von
durch Training dressierter Körperlichkeit:
Das An- und Auskleiden beschäftigte seinen Geist als die Aufgabe, es auf die
weitaus anstrengendste Weise zu tun. Und weil der menschliche Körper zu jedem
Muskel einen Gegenmuskel hat, so daß der eine streckt, wenn der andere beugt,
oder beugt, wenn jener streckt, gelang es ihm, sich bei jeder Bewegung die unsag-
barsten Schwierigkeiten zu schaffen.396
Die Bemühungen des Kraftmenschen, mit unerbittlichem Training den Alltag
zu meistern, werden von Musil durch ein Bild aus dem Bereich des Boxens, das
Kombattante per se illustrierend, auf die Spitze getrieben:
Man kann wohl behaupten, daß er an guten Tagen aus zwei völlig fremden Men-
schen bestand, die einander unaufhörlich bekämpften.397
Nach Durchlaufen des Muskelstählungsparcours liegt der Sportsmann, der das
„Talent eines Leibes“398 über den „Triumph der Moral und des Geistes“399 stellt,
abendlich
392 Musil 1978h, S. 689
393 Musil 1989a, S. 46
394 Ebd.
395 Vgl. Musil 1978a, S. 531
396 Vgl. ebd.
397 Ebd.
398 Ebd.
399 Ebd. 351
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440