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bewegung vor dem Hintergrund eines lebensreformistischen Gegenprogramms:
dem Boxen. Mit der, wie Musil dies nennt, „Separation der Lebensreforme-
rei“408 wahrt das Boxen eine unüberbrückbare habituelle Distanz. Boxen erweist
sich auch hier als eine so ambivalente wie unzuverlässige Kulturtechnik. Der
von Musil ironisch als „Tugut“409 apostrophierte Lindner versucht die Bewe-
gungsabläufe des Körpers mit „schönen inneren Aufgaben“410 in einem Junktim
zu verknüpfen; er verabscheut die „halsbrecherische Anbetung der Schneidig-
keit“411, die er durch systematisierte Trainingspläne abzuwenden sucht:
Er ersetzte sie bei diesen mit großer Umsicht durch ein staatsmännischeres Ver-
halten im turnerischen Gebrauch seiner Gliedmaßen und verband Anspannung
der Willenskraft mit rechtzeitiger Nachgiebigkeit, Schmerzüberwindung mit ver-
ständiger Menschlichkeit, und wenn er als abschließende Mutübung etwa über
einen umgelegten Stuhl sprang, so geschah es mit ebenso viel Zurückhaltung wie
Selbstvertrauen. Eine solche Entfaltung des ganzen Reichtums an menschlichen
Anlagen machte ihm seine Leibesübungen, seit er sie vor einigen Jahren aufge-
nommen hatte, zu wahren Tugendübungen.412
Sein Morgen- und Tugendtraining sowie die „abschließende Mutübung“413 –
das Überspringen eines umgelegten Sitzmöbels414– absolviert Lindner im über-
reizten Modus einer körperlichen Strapaze, nämlich, wie dargestellt, „im turne-
rischen Gebrauch seiner Gliedmaßen“415, durch „Anspannung der Willenskraft
mit rechtzeitiger Nachgiebigkeit“416. Nicht-Training wird hier zum Training.
Den „rituellen Ernst solcher Körperkultur“417, von Lindner als „Schönheits- und
Gesundheitsdienst“418 in die Tat umgesetzt, lässt Musil im „Zeitalter der Kör-
perkultur“419 methodisch ins Leere laufen; die lebensreformistischen Angebote,
mit denen Naturheilbewegung, Spiritualismus, Eurhythmie und Nacktkör-
408 Musil 1978q, S. 1197
409 Musil 1989b, S. 1049
410 Ebd., S. 1050
411 Ebd.
412 Vgl. Musil 1989b, S. 1049
413 Ebd., S. 1050
414 Vgl. ebd.
415 Ebd.
416 Ebd.
417 Bernett 1960, S. 152
418 Musil 1989b, S. 1051
419 Musil 1989a, S. 380 353
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440