Seite - 365 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Als manifeste Reaktion auf die „Stagnation einer Zerfallszeit“519 versetzt Ulrich
dem Boxsportball einen Hieb; damit öffnet Musil diskursive Echoräume: Ulrichs
Haltung zur Welt wird einerseits ohne Worte und mit wuchtigem Faustschlag
charakterisiert; betont körperliches Agieren avanciert zu einem Drehpunkt der
Personenzeichnung. Der Hieb auf den Punchingball scheint andererseits äuße-
res Zeichen von Ulrichs zugleich domestiziertem und auf Entscheidung gerich-
tetem, risikobehaftetem Aktivismus, der auf die „Angriffslust gegenüber diesem
Leben“520 zielt. In resignativem Ton stellte Ulrich zuvor beim Weggehen vom
Fenster fest:
„Man kann tun, was man will;“ [sic] sagte sich der Mann ohne Eigenschaften
achzelzuckend [sic] „es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten
darauf an!“521
Ulrich wird durch Boxen eine dynamische Körperlichkeit zugeteilt, die, wie
Musil in seinem Bundesheere-Aufsatz festgestellt hat, „muskuläre, sensorielle,
antezipierende [sic]“522 Reaktionsformen bereithält. Ulrich fühlt sich zugleich
einem „Gefilz von Kräften“523 ausgeliefert. Damit ist im Mann ohne Eigenschaf-
ten jenes spezielle Muster benannt, das bloßes „Verschalten und Verknoten von
Wissensordnungen und Diskurstypen“524 ausschließt und verdeckt geglaubte
diskursive Verbindungen einbezieht: „Die Welt ist zu einem ,Gefilz‘ geworden,
in dem die Fäden sich verfasern“525, analysiert Inka Mülder-Bach in ihrer Stu-
die Robert Musil die zentrale Metapher verflochtenen Denkens. „,Gefilz‘ ist ein
Wort, das zwischen Gewebe und Filz changiert. Es bezeichnet ein Material, von
dem nicht sicher ist, ob es überhaupt aus einzelnen Fäden besteht bzw. ob diese
zu isolieren sind.“526 Die Ausgesetztheit des modernen Individuums, auf den
Feldern des Sozialen und Ökonomischen in zahllose Abhängigkeiten verstrickt,
erscheint in der ambivalenten Erfahrung des Boxens in (antrainierter, auf den
Kampf vorbereiteter) Systematik und (schutzlos im Duell, allem Training zum
Trotz, erlebter) Kontingenz gespiegelt. Der Gewaltstreich der drei Schurken im
boxringähnlichen „Kreis der Laterne“527 wird Ulrich bald zweierlei vor Augen
519 Rothe 1974, S. 262
520 Fleig 2008, S. 216; vgl. ebd. S. 281ff
521 Musil 1989a, S. 13
522 Musil 1980, S. 184
523 Musil 1989a, S. 13
524 Hoffmann 1997, S. 230
525 Mülder-Bach 2013, S. 240
526 Ebd.
527 Musil 1989a, S. 25 365
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440