Seite - 369 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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tellektuellen Radius richtet Musil an Goethe aus, dem Dichter ganzheitlichen
Denkens und Handelns: „Übrigens wer war Göthe?“564, so Magenschlag. Ein
Beobachter habe, beantwortet sich Faust selbst die Frage, bei seinem Weltmeis-
terschaftskampf notiert, dass seine „Stöße eine reichere Intuition verraten als die
Gedichte Göthes: ich halte ihn für den besseren. Er hat modernen Geist.“565
Tempora hält dagegen: „Sie sind ein Verächter des Geistigen, Faust Magen-
schlag!“566 Musil macht auf die „automatisierte Sensationslust“567 aufmerksam,
die zwischen „Dicht- und Boxkunst“568 keinen Unterschied mehr zu erkennen
vermag. „Lebendig ist nur die Tat; ohne Gedanken!“569, lässt er Magenschlag
deklamieren – und unterzieht ebendiesen Drang zur Tat radikaler Dekonstruk-
tion: Magenschlag „zieht eine Spring Schnur [sic] aus der Tasche u. beginnt wie
ein spielendes Kind darüber zu hüpfen“570. Er „trainiere die Strecker und Beuger
der Beine“571, entgegnet Magenschlag die Frage nach dem Sinn der Übung. „Ich
meine, warum tun Sie es so wild ohne Kultur?“572, staunt Tempora; man müsse
doch den „Körpergeist üben“573, verkündet Magenschlags Gefährtin in hohler
Ganzheitsphraseologie. „Sie müssen zwischen je zwei Sprüngen die Augen […]
empor heben und etwas Tiefes über die hellenische Kultur denken“574, lässt Mu-
sil Tempora in Sirenengesang ausbrechen: „Das ist die griechische Wanderung.
Seele und Körperkraft wachsen in gleichem Maße.“575 Musil durchmustert im
Magenschlag-Fragment den Katalog der zivilisatorischen Heilsversprechen zu
Beginn des 20. Jahrhunderts. Wer sich den Vorgaben fügt, dem wird die Erlö-
sung von Tempowahn und Technikfetischismus in Aussicht gestellt.576 Magen-
schlag sei der „Inbegriff der Zeittugenden“577, schlussfolgert Musil. Der in die
564 Musil 1976a, S. 555
565 Ebd.
566 Ebd.
567 Fleig 2008, S. 202
568 Ebd.
569 Musil 1976a, S. 555
570 Ebd., S. 557
571 Ebd.
572 Ebd.
573 Ebd.
574 Ebd.
575 Ebd.
576 Es ist wohl kein Zufall, dass Musil den IV. Akt des Magenschlag-Fragments auf folgende Weise
projektiert: „Allgemeines Heiraten, Satire darauf. […] Faust fürchtet Kühe, aber nicht den Stier.
Wissenschaftliches Boxen. Hauptsache bleibt aber doch die Fähigkeit des Einsteckens.“ (Musil
1976a, S. 566) – Musil treibt den auf diesen Seiten bereits weiter oben untersuchten Trainier-
wahn der Trivialliteratur so kritisch wie ironisch auf die Spitze
577 Ebd., S. 563 369
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440