Seite - 378 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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sicht des âLebensgemisch[s]â635, dem sich Ulrich ausgeliefert sieht, steigert sich
das Boxen zu einem funktionstĂŒchtigen Entwurf körpergeistiger Organisation
â auch wenn das Boxen selbst von einem unĂŒbersichtlichen körperlichen und
geistigen Wissensfilz geprÀgt sein mag. Musil nÀhert sich deshalb zuallererst
den mit Boxen einhergehenden EntrĂŒckungszustĂ€nden und Interferenzzonen,
in denen sich körperliche und geistige Aspekte mischen und binden: Einerseits
vermittelt das Boxen Einblicke in eine egoistisch aufgelöste SozietÀt samt de-
ren erodierender âWertehierarchieâ636; Ulrich unterziehe sich, so Anne Fleig,
auch deshalb regelmĂ€Ăigem Training, um seine âMĂ€nnlichkeit zu stĂ€hlen und
an die Anforderungen des ,Seinesgleichenâ anzupassenâ637. Andererseits eröffnet
der Sport einen Zugang in die âkomplizierte seelische Tiefengliederungâ638 des
einzelnen Individuums. Die Argumentation der Figur Ulrichs lÀuft in den Kul-
turwissenschaften hÀufig auf die Dichotomien von Sportler und Denker, Geist
und GefĂŒhl, PassivitĂ€t und Aktivismus hinaus, auf die âSpannung zwischen Be-
wusstsein und VitalitĂ€tâ639 â ohne dass die Dualismen dabei aber aufgehoben
wĂŒrden: Boxen lĂ€sst Musil insofern als ein in seinen komplexen AblĂ€ufen nach-
vollziehbares Geschehen manifest werden, das zahllose Fragen der kulturellen
und gesellschaftlichen Moderne, von KörperÀsthetik und Selbstwahrnehmung
miteinander verknĂŒpft und aufwirft. In Ulrich sind jene Verflechtungszusam-
menhÀnge angelegt, die ihn dazu befÀhigen, auf die MentalitÀten und kultu-
rellen Muster seiner Zeit angemessen zu reagieren. FĂŒr Ulrichs âDrang zum
Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darĂŒberâ640 hat Musil im Mann ohne
Eigenschaften ein einprÀgsames Bild entworfen. Als ein Ausdruck gÀngigen di-
chotomen Denkens konstatiert der Autor zunÀchst, dass das Dasein des Manns
ohne Eigenschaften weitestgehend von Gewalt und Liebe bestimmt sei: âIn die-
sen beiden BĂ€umen wuchs getrennt sein Leben.â641 Die Ineinssetzung und das
Ineinandergreifen der getrennt wahrgenommenen Bereiche diskutiert Musil in
einem nĂ€chsten Schritt: Wie lasse sich, fragt er, Ulrichs Lebensweg â nach der
MilitÀrzeit studiert er Ingenieurwesen und wendet sich dann der Mathematik642
zu, bevor er sich seines âLebens auf Urlaubâ643 widmet â und sein Verlangen
635 Ebd.
636 Gamper 1999, S. 140
637 Fleig 2008, S. 214
638 Lethen 1994, S. 53
639 Bernett 1960, S. 145; vgl. Fischer 1986a, S. 50: âLediglich im Bereich der Sinnlichkeit scheinen
GegensĂ€tze irgendwie aufgehoben.â
640 Musil 1989a, S. 592
641 Ebd.
642 Vgl. ebd., S. 35ff
643 Ebd., S. 801; vgl. ebd., S. 47
378 | Teilï»ż
II.ï»ż
Imï»ż
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂŒberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂŒckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und NebenschauplÀtze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten ErzÀhlliteratur 160
- âZeitfigurâ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440