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zielt er, der Arrangeur und Bewahrer flüchtiger Eindrücke, auf Relativierung;
auf Ulrichs Vorstellungsbild vom großen bunten Vogel folgt der abschließende
Kommentar, dass jener Gedanke „ohne rechten Sinn, aber voll von einem [sic]
wenig jener ungeheuren Sinnlichkeit“651 sei, „mit der das Leben in seinem maß-
losen Leib alle nebenbuhlerischen Gegensätze gleichzeitig“652 befriedige. Auch
in den Studienblättern und Notizen zum Mann ohne Eigenschaften prangert Mu-
sil, wie so oft, die zeittypische Tendenz zur voreiligen Personentypisierung des
„wahren-starken Menschen“653 an; sowohl die Eigenschaften als auch die Kör-
perlichkeit des Menschen würden so allzu schnell ins Artifizielle gerückt und
in die „Reduktion der Vielfalt der menschlichen Bedeutungsmöglichkeiten“654
münden. Musil lässt Ulrich deswegen auch nicht in der Verkleidung eines Para-
deathleten die Romanbühne des Mann ohne Eigenschaften betreten; der Held des
Romans fühlt sich in seinem Körper nicht zu Hause; er empfindet sich als „unklar
und unentschieden“655: diese „innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von
Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlas-
sensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit,
Herzensgleichgültigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit,
wie sie unsre Zeit kennzeichnen“656. Das schlägt sich auch körperlich nieder:
Aber ist das der Körper unseres Geistes, unserer Ideen, Ahnungen und Pläne oder
– die hübschen inbegriffen – der unserer Torheiten? Daß Ulrich diese Torheiten
geliebt hatte und zum Teil noch besaß, hinderte ihn nicht, sich in dem von ihnen
geschaffenen Körper nicht zu Hause zu fühlen.657
Gegenüber seiner Geliebten äußert Ulrich:
„Das Gefühl, einen festen Boden unter den Füßen und eine feste Haut um mich
zu haben, das den meisten Menschen so natürlich erscheint, ist bei mir nicht sehr
stark entwickelt. Denken Sie doch einmal daran, wie Sie ein Kind waren: ganz wei-
che Glut. Und dann ein Backfisch, dem die Sehnsucht auf den Lippen brannte. In
mir wenigstens lehnt sich etwas dagegen auf, daß das sogenannte reife Mannesalter
der Gipfel solcher Entwicklung sein soll.658
651 Musil 1989a, S. 29
652 Ebd., S. 29f
653 Musil 1989b, S. 1818
654 Fischer 1986a, S. 61
655 Musil 1989a, S. 153
656 Ebd., S. 40
657 Ebd., S. 286
658 Ebd., S. 289f
380 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440