Seite - 386 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Papst hätte es keinen Luther gegeben und ohne die Heiden keinen Papst, darum
ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die tiefste Anlehnung des Menschen an
seinen Mitmenschen in dessen Ablehnung besteht. Das dachte er natürlich nicht
so ausführlich; aber er kannte diesen Zustand einer ungewissen, atmosphärischen
Feindseligkeit, von dem in unserem Menschenalter die Luft voll ist, und wenn sich
das einmal plötzlich in drei unbekannten, nachher wieder auf ewig verschwinden-
den Männern zusammenzieht, um wie Donner und Blitz auszuschlagen, so ist das
fast eine Erleichterung. Immerhin schien er doch angesichts dreier Strolche etwas
zu viel gedacht zu haben.698
Der zeitgemäße Totalitätsanspruch des Sports schwindet zum bloßen Anlassfall
für Ulrichs Reflexionen. Musil bezweifelt das im Publikumskollektiv realisierte
Bild vom Fausthiebathleten als Augenblicksregenten von sportlich-drama-
tischen Minuten. Der Autor bringt Boxen vielmehr als Möglichkeit vielfältig
sinnlich-reflexiver Erfahrung ins Spiel. Das boxsportliche Kräftemessen dient
nicht mehr allein der besseren Kenntlichmachung komplexer Wechselwirkun-
gen von Körper und Geist, von Geistesgegenwart und Körperbeherrschung; es
illustriert auch Ulrichs Sinnstiftungs- und Selbstvergewisserungsversuche, sein
Streben nach Selbstbeweis und Selbstbewährung, die im Zucken des dezisiven
Augenblicks aufgehoben scheinen. Im Boxen emanzipiert sich die im „Körper
vorhandene Kraft […] vom Zugriff kontrollierender Geistesinstanzen“699; vor
dem Hintergrund, so Musil, all der „Widersprüche, der Inkonsequenz und Un-
vollkommenheit des Lebens“700 und dem „Leiden an der Relativität aller Werte,
an der Pluralität widerspruchsvoller Ideen, an der Dissonanz des bewussten und
des unterbewussten Erlebens“701, sehnt sich Ulrich nach dem „Erlebnis der fast
völligen Entrückung oder Durchbrechung der bewußten Person“702. In der Fi-
gur des Manns ohne Eigenschaften laufen die Diskursstränge Körper, Training,
Ratio, Männlichkeit, Mystik und Psychotechnik in komplexer Ordnung zusam-
men, die von Musil wie eine planvolle Unordnung markiert ist. Die Anordnung
Boxen passt Musil aber weder in das Schema der Seele-Geist-Körper-Tradition
ein noch präsentiert er diese als eine wohlgeordnete Grammatik dynamischer
Leib-Geistigkeit: Er erweitert den reflexiven Spielraum. Im „Netz, das man zwi-
schen diesen Elementen herstellen kann“703, sei abschließend abermals Foucault
698 Ebd., S. 26
699 Müller 2004, S. 118
700 Musil 1989a, S. 27
701 Bernett 1960, S. 146
702 Musil 1989a, S. 29
703 Foucault 2003, S. 392
386 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440