Seite - 400 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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einem erweiterten Fragehorizont verpflichtet ist, gerade was Publikumswirk-
samkeit, mentale und mediale Sportbegeisterung, Brutalität und Körper-See-
le-Geist-Problematik des Boxens anbelangt: Der Modernist Musil hebt das
boxliterarische Planspiel der diskursiven Einzelkomponenten gewissermaßen in
den Rang des Dreidimensionalen. Musil wertet Sportdiskurs und Sportpraxis als
Spannungszustände, denen er sich mit ambivalenter Faszination annimmt; von
den modischen Implikationen des Boxens lässt er sich ebenso wenig täuschen
wie er den Schriftenbergen über den Sport ein weiteres pastoses Bild vom Boxen
hinzufügt. Jenes Sportpathos dagegen, mit dem Boxen belegt wird, erschließt
Musil minutiös – die ideologischen Besetzungsversuche werden gebrochen, dis-
kursive und praktische Formationen neu austariert: Performanz und Motorik;
Physiologie und Psychotechnik; Medialität und Kulturkritik; Trainingslehre
und Körpertechnisierung; Ästhetik und Ästhetizismus; Emotionspsychologie
und Ausdrucksgebärde; Ratio und Sinnlichkeit. Boxen rückt zu einem glei-
chermaßen theoretischen wie praktischen Vehikel auf. Die epochenspezifischen
Diskurse, die als Kampf, Kraft und Konkurrenz in machtstrategischer Funk-
tion in den Lebensalltag eingreifen, erweisen sich als wesentliche Bezugsgrö-
ßen für Musils Sportreflexion, die stets auch kritische Auseinandersetzung mit
Ausdrucksreservoir und Anziehungskraft der kulturellen Moderne bleibt. Mu-
sil spannt einen weiten Bogen: Boxen untersucht er als eine körperkulturelle
Versuchsanordnung, im Umfeld des Sports, auf den Feldern technokratischer
Trainings- und Lebensplanung, ermittelt er Bereiche diskursiver Komplexität.
Musil nähert sich dem Kampfsport dabei nicht als Arrangeur des Dokumenta-
rischen, er platziert ihn gewissermaßen in der Trainingskammer des Denkens:
Der analytische Anspruch des Autors eröffnet dem literarisierten Sport neue
Artikulationsräume. Boxen formiert sich zu einem Reflexionsschwerpunkt auf
den diskursiven Spannungsfeldern von Affirmation und Differenzierung, Indi-
vidualisierung und Normierung, Körperlichkeit und leibseelischer Verschmol-
zenheit. Boxen und seine zwingenden Schemata von Klimax und Knock-out,
Sieger und Verlierer, Aufstieg und Abstieg gestaltet Musil, indem er als einer
der ersten zeitgenössischen Autoren den menschlichen Körper in die Verfah-
rensweisen der Psychotechnik einbindet, zum Erlebnisraum diskursiver Wirk-
mechanismen um, in dem neue Körpervorstellungen und Wissensformationen
Platz greifen. Die grundsätzliche Gegensätzlichkeit von Körper und Geist stellt
Musil infrage – mit Hilfe der in der Figur des Boxers demonstrierten Kör-
perdominanz, die nach Auffassung des Autors das Ideal der Superiorität des
Körperlichen über das Geistige ins Wanken bringt. Die Status von Körper-Ent-
fesselung und Nicht-Nachdenken, die unter anderem Musils Sportfaszination
illustrieren und seine körperkulturellen Reflexionen grundieren, lassen sich mit
Hilfe des Boxens exemplarisch veranschaulichen: Boxen bildet im Kern schwer
400 | Zusammenfassung
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440