Seite - 855 - in TYROLIS LATINA - Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 2
Bild der Seite - 855 -
Text der Seite - 855 -
Philosophie und Naturwissenschaft 855
gemäßer, unfehlbarer Einsicht führt. Mindestens ebenso wichtig ist aber ein Un-
terschied im Stil des Philosophierens und philosophischen Schreibens, der auch im
Urteil Rosminis zum Ausdruck kommt. Ein Vergleich zwischen Malebranche und
Iuvenalis zeigt schön den Unterschied zwischen einem ‚Philosophenphilosophen‘
und einem Schulphilosophen – um die Begriffe von Paul Richard Blum aufzu-
nehmen (vgl. Blum 1998). Malebranche, der Philosophenphilosoph, setzt sich nur
am Rande mit altehrwürdigen Traditionen auseinander, rezipiert dafür individuelle
Durchbrüche (in diesem Fall Descartes), drängt mit skeptischen Fragestellungen
vorwärts und entwickelt daraus sein originelles System. Iuvenalis, der Schulphilo-
soph, verwendet den weitaus größten Teil seiner Energie darauf, seine Gedanken
mit der großen Tradition christlicher Philosophie zu harmonisieren und zu bewei-
sen, dass ‚sein‘ System eigentlich das der anerkannten Autoritäten ist. Malebranche
hat die wesentlichen Punkte seiner Philosophie bereits 1674–1675 in De la recher-
che de la vérité veröffentlicht, während Iuvenalis’ Solis intelligentiae lumen erst 1686
erschien. Trotzdem ist nicht anzunehmen, dass Iuvenalis Malebranche zur Kenntnis
genommen hat. Auch Descartes oder der Kartesianismus kommen in seinem Werk
nicht vor. Iuvenalis schreibt in der Abgeschiedenheit seines Klosters, mit den Klas-
sikern der christlichen Philosophie in der Hand, mit der Gewissheit, damit die
maßgeblichen Autoritäten zu kennen und der Bereitschaft, sie bis ins letzte Detail
zu analysieren und zu diskutieren. Das führt zu einem Buch mit hunderten kleinen
und großen Exkursen und unzähligen Wiederholungen. Wiederholung und Neu-
formulierung zählen überhaupt zu den ausgeprägtesten Stilmerkmalen des Werkes,
und mehrmals spricht Iuvenalis es auch direkt an, so z.B. am Beginn des zweiten
Kapitels, nachdem die wesentlichen Punkte der Kernfrage schon im ersten vorweg-
genommen wurden (71) :
Existimo, lector amantissime, quod ex dictis in praecedenti capite aut iam videris seu praevide-
ris vel saltem a longe subolfacere potueris, quo mea in sequentibus progressura sit intentio. Credo
te facili coniectura posse mentem meam divinare. Sed nolo te de sensu meo solum coniectare,
at volo, ut firmiter de illo iudicare possis. Unde iamiam dictis et exaratis nihil obstantibus, ut
via, qua tibi subsequenti praecedo, adhuc magis trita ac lucidior paretur, in hoc secundo capite
ipsum totius controversiae seu quaestionis statum velut ab ovo et de novo ac speciali diligentia
manifestandum esse duxi.
Ich glaube, liebster Leser, dass du aus dem im vorhergehenden Kapitel Gesagten entwe-
der schon siehst oder voraussiehst oder zumindest von ferne ahnen kannst, wohin meine
Absicht im Folgenden gehen wird. Ich bin überzeugt, dass du mit einer einfachen Schluss-
folgerung meine Geisteshaltung erraten kannst. Aber ich möchte nicht, dass du meine
Gedanken nur erschließt, sondern ich möchte, dass du fest über sie urteilen kannst. Des-
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 2
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 728
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Von der Gründung der Universität bis zur Aufhebung des Jesuitenordens (1773) Epochenbild (Lav Šubarić) 610
- Dichtung (Martin Korenjak) 620
- Theater (Stefan Tilg) 660
- Beredsamkeit, Dialog, Rhetorik (Florian Schaffenrath) 701
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić/Florian Schaffenrath/Patrik Kennel) 726
- Biographisches Schrifttum (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 778
- Brief (Wolfgang Kofler) 788
- Sprachdidaktik, Poetik, Philologie (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 797
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 807
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 833
- Medizin (Lukas Oberrauch) 862
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne/Erika Kustatscher) 875
- Von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848 Epochenbild (Florian Schaffenrath) 909
- Dichtung (Florian Schaffenrath) 918
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 941
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath/Erika Kustatscher) 953
- Biographisches Schrifttum (Patrik Kennel/Martin Korenjak) 980
- Brief (Wolfgang Kofler) 989
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 998
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 1022
- Medizin (Lav Šubarić) 1046
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 1056
- Von der Revolution 1848 bis heute Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 1073
- Dichtung (Stefan Tilg) 1079
- Prosa (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 1109
- Abkürzungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1159
- Bibliothekssiglen (Johanna Luggin) 1161
- Bibliographie (Johanna Luggin) 1162
- Abbildungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1265
- Index nominum (Johanna Luggin) 1271
- Index geographicus (Johanna Luggin/Simon Wirthensohn) 1299
- Index rerum (Johanna Luggin) 1310
- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 1322