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Medizin 873
Mütter
Tauche Wolle und ein dichtmaschiges Tuch in dieselbe Feuchtigkeit oder denselben Al-
kohol und setze dann beide denselben Strahlen der Sonne aus : Du wirst sehen, dass die
wässrige oder alkoholische Feuchtigkeit viel schneller der Wolle entweicht als dem Tuch.
Die Schuld für diesen Missstand sieht Holler v.a. bei den Müttern, welche ihre
Kinder nach modernen und großteils unsinnigen Methoden erzögen. Die Mütter
selbst hielten sich nicht an die Ratschläge der Ärzte, bewegten sich während der
Schwangerschaft kaum und nähmen cibi molles („verweichlichende Nahrung“) zu
sich – somit sei die Qualität der Muttermilch von vornherein beeinträchtigt. Sei
das Kind erst einmal auf der Welt, ließen sie es teils aus Sorge, teils aus Bequem-
lichkeit nicht mehr aus der Wiege und verlängerten künstlich die Schlafphasen der
Kleinen durch Verdunkelung der Räume oder das Singen von Schlafliedern – dafür
werde dann aber ein Arzt, der Frischluft in ein Kinderzimmer lassen wolle, als
Kindsmörder beschimpft. Noch schlimmer allerdings werde es, wenn die Kleinen
erst einmal laufen könnten : Dann würden sie nämlich, wie damals üblich (vgl.
Weber-Kellermann 1997), in jede erdenkliche Schutzkleidung gesteckt, damit sie
sich nur ja nirgends verletzten. Anschließend erläutert Holler aus seinem eigenen
Erfahrungsschatz den zur damaligen Zeit typischen Tagesablauf eines Kindes : Die-
ses könne bis Mittag schlafen, da die Mutter zumeist die Sonne aussperre. Dann
werde es erst einmal geherzt und ordentlich gewaschen : Zahnpasta, Mandelcreme
für die Hände, Kupferpulver für die Haare sowie wohlriechende Seife kämen dabei
zum Einsatz. Schließlich gehe das Ganze so aus (Bl. B3v) :
Bellulum suum tam diu lavat, fricat, linit, pectinat, ornat et vestit, ut totus comptus instar
pupae Gallicae appareat.
Sie wäscht, trocknet, kämmt, schmückt und kleidet ihren Liebling so lange, bis er, zur
Gänze hübsch zurechtgemacht, wie eine französische Demoiselle aussieht.
Verbittert stellt der Arzt aber auch fest, dass es um die geistige Bildung schlimm be-
stellt sei : De instructione animi altum silentium. (Bl. B4r ; „Hinsichtlich der geistigen
Bildung herrscht tiefes Schweigen.“) Gefahr sieht Holler auch darin, dass sich viele
Mütter, ob aus Bequemlichkeit oder Überforderung, von Ammen vertreten ließen,
welche oft mit wenig Bedacht ausgesucht würden. So komme es immer wieder vor,
dass Prostituierte diesen Beruf als Nebenerwerb ausübten – mit verheerenden Fol-
gen für die Säuglinge : Meretrices enim a potiori hisce in partibus pro nutricibus substi-
tuuntur […] una cum lacte mores imbibunt infantes. (Bl. C1v ; „In unseren Gegenden
werden nämlich die Ammen großteils durch Dirnen ersetzt […] und mit deren
Milch nehmen die Kleinen auch deren Gesinnung auf.“) Geradezu lebensbedroh-
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 2
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 728
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Von der Gründung der Universität bis zur Aufhebung des Jesuitenordens (1773) Epochenbild (Lav Šubarić) 610
- Dichtung (Martin Korenjak) 620
- Theater (Stefan Tilg) 660
- Beredsamkeit, Dialog, Rhetorik (Florian Schaffenrath) 701
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić/Florian Schaffenrath/Patrik Kennel) 726
- Biographisches Schrifttum (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 778
- Brief (Wolfgang Kofler) 788
- Sprachdidaktik, Poetik, Philologie (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 797
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 807
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 833
- Medizin (Lukas Oberrauch) 862
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne/Erika Kustatscher) 875
- Von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848 Epochenbild (Florian Schaffenrath) 909
- Dichtung (Florian Schaffenrath) 918
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 941
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath/Erika Kustatscher) 953
- Biographisches Schrifttum (Patrik Kennel/Martin Korenjak) 980
- Brief (Wolfgang Kofler) 989
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 998
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 1022
- Medizin (Lav Šubarić) 1046
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 1056
- Von der Revolution 1848 bis heute Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 1073
- Dichtung (Stefan Tilg) 1079
- Prosa (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 1109
- Abkürzungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1159
- Bibliothekssiglen (Johanna Luggin) 1161
- Bibliographie (Johanna Luggin) 1162
- Abbildungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1265
- Index nominum (Johanna Luggin) 1271
- Index geographicus (Johanna Luggin/Simon Wirthensohn) 1299
- Index rerum (Johanna Luggin) 1310
- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 1322