Seite - 106 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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vaterländisch dachten, weil wir beide fremden Werken mit Hingebung und
ohne jeden äußeren Vorteil zu dienen liebten und weil wir geistige
Unabhängigkeit als das primum und ultimum des Lebens werteten. In ihm
lernte ich zum erstenmal jenes »unterirdische« Frankreich kennen; als ich
später las, wie bei Rolland Olivier dem deutschen Johann Christoph
entgegentritt, glaubte ich beinahe unser persönliches Erlebnis gestaltet zu
sehen. Aber das Schönste in unserer Freundschaft, das mir Unvergeßlichste,
blieb, daß sie ständig einen heiklen Punkt überkommen hatte, dessen
beharrliche Resistenz unter normalen Umständen sonst eine ehrliche und
herzliche Intimität zwischen zwei Schriftstellern hätte verhindern müssen.
Dieser heikle Punkt war, daß Bazalgette alles, was ich damals schrieb, mit
seiner prachtvollen Ehrlichkeit dezidiert ablehnte. Er liebte mich persönlich,
er hatte die denkbarste Achtung für meine Hingabe an das Werk Verhaerens.
Immer, wenn ich nach Paris kam, stand er getreu an der Bahn und grüßte als
erster mir entgegen; wo er mir helfen konnte, war er zur Stelle, wir stimmten
in allen entscheidenden Dingen besser als sonst Brüder zusammen. Aber zu
meinen eigenen Arbeiten sagte er ein entschlossenes Nein. Er kannte
Gedichte und Prosa von mir in den Übersetzungen von Henri Guilbeaux (der
dann im Weltkriege als Freund Lenins eine wichtige Rolle gespielt hat) und
lehnte sie frank und schroff ab. All das habe keinen Zusammenhang mit der
Wirklichkeit, rügte er unerbittlich, das sei esoterische Literatur (die er
gründlich haßte), und er ärgere sich, weil gerade ich das schreibe. Unbedingt
ehrlich zu sich selbst, machte er auch in diesem Punkte keine Konzessionen,
nicht einmal die der Höflichkeit. Als er zum Beispiel eine Revue leitete, bat er
mich um meine Hilfe – das heißt, er bat mich darum in der Form, daß ich ihm
aus Deutschland wesentliche Mitarbeiter verschaffen sollte, also Beiträge, die
besser waren als meine eigenen; von mir selbst, seinem nächsten Freunde,
verlangte und veröffentlichte er beharrlich keine Zeile, obwohl er gleichzeitig
aufopferungsvoll und ohne jedes Honorar die französische Übertragung eines
meiner Bücher für einen Verlag aus treuer Freundschaft revidierte. Daß unsere
brüderliche Kameradschaft durch diesen kuriosen Umstand in zehn Jahren
nicht eine Stunde lang eine Minderung erlitten, hat sie mir noch besonders
teuer gemacht. Und nie hat mich eine Zustimmung mehr gefreut als gerade
die Bazalgettes, als ich während des Weltkrieges – selbst alles Frühere
annullierend – endlich zu einer Form persönlicher Aussage gelangt war. Denn
ich wußte, sein Ja zu meinen neuen Werken war ebenso ehrlich, wie es durch
zehn Jahre sein schroffes Nein gewesen.
Wenn ich den teuren Namen Rainer Maria Rilkes, obwohl es ein deutscher
Dichter war, auf das Blatt der Pariser Tage schreibe, so geschieht dies, weil
ich in Paris am öftesten und besten mit ihm beisammen gewesen bin und sein
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286