Seite - 129 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Berlin bestellt, da kam in letzter Stunde ein Telegramm: Verschiebung wegen
Erkrankung Matkowskys. Ich hielt es für einen Vorwand, wie er beim Theater
üblich ist, wenn man einen Termin oder ein Versprechen nicht einhalten kann.
Aber acht Tage später brachten die Zeitungen die Nachricht, Matkowsky sei
gestorben. Meine Verse waren die letzten gewesen, die seine wunderbar
beredten Lippen gesprochen.
Erledigt, sagte ich mir. Vorbei. Zwar wollten jetzt zwei andere Hoftheater
von Rang, Dresden und Kassel, das Stück; innerlich jedoch war mein
Interesse erlahmt. Nach Matkowsky mochte ich keinen andern Achill mir
denken. Aber da kam eine noch verblüffendere Nachricht: ein Freund weckte
mich eines Morgens, er sei von Josef Kainz gesandt, der zufällig auf das
Stück gestoßen sei und darin eine Rolle für sich sehe, nicht den Achill, den
Matkowsky hatte darstellen wollen, sondern die tragische Gegenrolle des
Thersites. Er werde sich sofort mit dem Burgtheater in Verbindung setzen.
Der Direktor Schlenther war nun als Bahnbrecher des gerade zeitgemäßen
Realismus aus Berlin gekommen und leitete (sehr zum Ärger der Wiener) das
Hoftheater als prinzipieller Realist; er schrieb mir sofort, er sehe wohl das
Interessante in meinem Drama, leider aber nicht die Möglichkeit eines über
die Premiere hinauswirkenden Erfolges.
Erledigt, sagte ich mir nochmals, skeptisch wie ich von je gegen mich und
mein literarisches Werk gewesen. Kainz dagegen war erbittert. Er lud mich
sofort zu sich; zum erstenmal sah ich den Gott meiner Jugend, dem wir als
Gymnasiasten am liebsten Hände und Füße geküßt, vor mir, biegsam der
Körper wie eine Feder, geistvoll und von herrlich dunklem Auge beseelt das
Gesicht noch im fünfzigsten Jahr. Ihn sprechen zu hören, war ein Genuß.
Jedes Wort hatte auch in der privaten Konversation seinen reinsten Umriß,
jeder Konsonant die geschliffene Schärfe, jeder Vokal schwang voll und klar;
heute noch kann ich manches Gedicht nicht lesen, sofern ich es einmal von
ihm habe rezitieren hören, ohne daß seine Stimme mitspricht mit ihrer
skandierenden Kraft, ihrem vollendeten Rhythmus, ihrem heroischen
Schwung; nie mehr ist es mir so zur Lust geworden, die deutsche Sprache zu
hören. Und siehe, dieser Mann, den ich wie einen Gott verehrte, entschuldigte
sich vor mir jungem Menschen, daß ihm die Durchsetzung meines Stücks
nicht gelungen sei. Aber wir sollten einander von nun an nicht mehr
verlorengehen, bekräftigte er. Eigentlich habe er eine Bitte an mich – ich
lächelte beinahe: Kainz eine Bitte an mich! – und zwar: er sei jetzt viel auf
Gastspielen und habe dafür zwei Einakter. Ein dritter fehle ihm noch, und was
ihm vorschwebe, sei ein kleines Stück, womöglich in Versen und am besten
mit einer jener lyrischen Kaskaden, wie er sie – einzig in der deutschen
Theaterkunst – dank seiner grandiosen Sprechtechnik, ohne Atem zu holen, in
einem Guß kristallen niederstürzen lassen konnte auf eine selbst atemlos
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286