Seite - 139 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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verwitterten Paläste, nicht die Himalayalandschaften, die mir auf dieser Reise
im Sinne der inneren Ausbildung das meiste gaben, sondern die Menschen,
die ich kennenlernte, Menschen einer anderen Art und Welt, als sie im
europäischen Binnenland einem Schriftsteller zu begegnen pflegten. Wer
damals, als man sparsamer rechnete und als Cooks Vergnügungstourneen
noch nicht organisiert waren, über Europa hinaus reiste, war fast immer in
seinem Stande und seiner Stellung ein Mann besonderer Art, der Kaufmann
kein kleiner Krämer mit engem Blick, sondern ein Großhändler, der Arzt ein
wirklicher Forscher, der Unternehmer von der Rasse der Conquistadoren,
verwegen, großzügig, rücksichtslos, selbst der Schriftsteller ein Mann mit
höherer geistiger Neugierde. In den langen Tagen, den langen Nächten der
Reise, die damals noch nicht das Radio mit Schwatz erfüllte, lernte ich im
Umgang mit dieser anderen Art von Menschen mehr von den Kräften und
Spannungen, die unsere Welt bewegen, als aus hundert Büchern. Veränderte
Distanz von der Heimat verändert das innere Maß. Manches Kleinliche, das
mich früher über Gebühr beschäftigt hatte, begann ich nach meiner Rückkehr
als kleinlich anzusehen und unser Europa längst nicht mehr als die ewige
Achse unseres Weltalls zu betrachten.
Unter den Männern, denen ich auf meiner Indienreise begegnete, hat einer
auf die Geschichte unserer Zeit unabsehbaren, wenn auch nicht offen
sichtbaren Einfluß gewonnen. Von Kalkutta aus nach Hinterindien und auf
einem Flußboot den Irawadi hinaufsteuernd, war ich täglich stundenlang mit
Karl Haushofer und seiner Frau zusammen, der als deutscher Militärattaché
nach Japan kommandiert war. Dieser aufrechte, hagere Mann mit seinem
knochigen Gesicht und einer scharfen Adlernase gab mir die erste Einsicht in
die außerordentlichen Qualitäten und die innere Zucht eines deutschen
Generalstabsoffiziers. Ich hatte selbstverständlich schon vordem in Wien ab
und zu mit Militärs verkehrt, freundlichen, liebenswürdigen und sogar
lustigen jungen Menschen, die meist aus Familien mit bedrängter
Lebensstellung in die Uniform geflüchtet waren und aus dem Dienst sich das
Angenehmste zu holen suchten. Haushofer dagegen, das spürte man sofort,
kam aus einer kultivierten, gutbürgerlichen Familie – sein Vater hatte
ziemlich viele Gedichte veröffentlicht und war, glaube ich, Professor an der
Universität gewesen – und seine Bildung war auch jenseits des Militärischen
universal. Beauftragt, die Schauplätze des russisch-japanischen Krieges an
Ort und Stelle zu studieren, hatten sowohl er als seine Frau sich mit der
japanischen Sprache, ja auch Dichtung, vertraut gemacht; an ihm sah ich
wieder, daß jede Wissenschaft, auch die militärische, wenn großzügig erfaßt,
notwendigerweise über das enge Fachgebiet hinausreichen und sich mit allen
andern Wissenschaften berühren muß. Er arbeitete auf dem Schiff den ganzen
Tag, verfolgte mit dem Feldstecher jede Einzelheit, schrieb Tagebücher oder
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286