Seite - 206 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ein und derselbe Mann im Dienst von beiden Seiten. Koffer wurden auf
geheimnisvolle Weise geöffnet, Löschblätter photographiert, Briefe
verschwanden auf dem Weg zu oder von der Post; elegante Frauen lächelten
einem in aufdringlicher Weise in den Halls der Hotels zu, sonderbar eifrige
Pazifisten, von denen wir nie gehört, meldeten sich plötzlich an und luden ein,
Proklamationen zu unterzeichnen oder baten scheinheilig um
Adressenmaterial ›verläßlicher‹ Freunde. Ein ›Sozialist‹ bot mir ein
verdächtig hohes Honorar für einen Vortrag vor der Arbeiterschaft in La
Chaux-de-Fonds, die nichts davon wußte; ständig hieß es auf der Hut sein. Es
dauerte nicht sehr lange, bis ich merkte, wie gering die Zahl derjenigen war,
die man als absolut verläßlich ansehen konnte, und da ich mich nicht in
Politik hineinzerren lassen wollte, schränkte ich meinen Verkehr immer mehr
ein. Aber selbst bei den Verläßlichen langweilte mich die Unfruchtbarkeit der
ewigen Diskussionen und die eigenwillige Verschachtelung in radikale,
liberale, anarchistische, bolschewistische und unpolitische Gruppen; zum
erstenmal lernte ich richtig den ewigen Typus des professionellen
Revolutionärs beobachten, der sich durch das bloß Oppositionelle seiner
Stellung in seiner Unbedeutendheit gesteigert fühlt und an das Dogmatische
sich klammert, weil er in sich selber keinen Halt besitzt. In dieser
geschwätzigen Wirrnis bleiben, hieß sich verwirren, unsichere
Gemeinsamkeiten kultivieren und die eigene Überzeugung in ihrer
moralischen Sicherheit gefährden. So zog ich mich zurück. Tatsächlich hat
von all diesen Kaffeehauskomplotteuren keiner ein Komplott gewagt, von all
den improvisierten Weltpolitikern nicht ein einziger verstanden, Politik zu
machen, als sie wirklich not tat. Sobald das Positive begann, der Aufbau nach
dem Kriege, blieben sie in ihrer krittelnden, nörgelnden Negativität stecken,
genau wie unter den Antikriegsdichtern jener Tage nur sehr wenigen nach
dem Kriege noch ein wesentliches Werk gelungen ist. Es war die Zeit
gewesen mit ihrem Fieber, die aus ihnen dichtete und diskutierte und
politisierte, und wie jede Gruppe, die nur einer momentanen Konstellation
und nicht einer gelebten Idee ihre Gemeinsamkeit verdankt, ist dieser ganze
Kreis interessanter, begabter Menschen spurlos zerfallen, sobald der
Widerstand, gegen den er wirkte – der Krieg – vorüber war.
Als den richtigen Ort wählte ich mir etwa eine halbe Stunde weit von
Zürich einen kleinen Gasthof in Rüschlikon, von dessen Hügel man den
ganzen See und nur klein und fern noch die Türme der Stadt überblickte.
Hier brauchte ich nur diejenigen zu sehen, die ich zu mir bat, die wirklichen
Freunde, und sie kamen, Rolland und Masereel. Hier konnte ich für mich
arbeiten und die Zeit nützen, die unterdes unerbittlich ihren Gang ging. Der
Eintritt Amerikas in den Krieg ließ allen, denen der Blick nicht verblendet
und das Ohr nicht durch heimatliche Phrasen ertaubt war, die deutsche
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286