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dieselben Bücher an der Wand und die halluzinierten Augen von Blakes
›King John‹, der mich überallhin begleitete. Ich brauchte wahrhaftig einen
Augenblick, um mich zu sammeln, denn Jahre und Jahre hatte ich mich nicht
mehr an diese erste Wohnung erinnert. War dies ein Symbol, daß mein Leben
– so lange in die Weite gespannt – nun rückschrumpfte ins Gewesene und ich
selber mir zum Schatten wurde? Als ich vor dreißig Jahren jene Stube in
Wien mir wählte, war es ein Anfang gewesen. Ich hatte noch nichts
geschaffen oder nichts Wesentliches; meine Bücher, mein Name lebten noch
nicht in meinem Land. Jetzt – in merkwürdiger Ähnlichkeit – waren meine
Bücher aus ihrer Sprache wiederum entschwunden, was ich schrieb, blieb für
Deutschland nun unbekannt. Die Freunde waren fern, der alte Kreis zerstört,
das Haus mit seinen Sammlungen und Bildern und Büchern verloren; genau
so wie damals war ich wieder von Fremde umgeben. Alles, was ich
dazwischen versucht, getan, gelernt, genossen, schien weggeweht, ich stand
mit mehr als fünfzig Jahren wieder an einem Anfang, war wieder Student, der
vor seinem Schreibtisch saß und morgens in die Bibliothek trabte nur nicht so
gläubig, nicht so enthusiastisch mehr, einen Schimmer von Grau auf dem
Haar und ein leises Dämmern von Verzagtheit über der ermüdeten Seele.
Von jenen Jahren 1934 bis 1940 in England viel zu erzählen zögere ich,
denn schon trete ich nahe heran an unsere Zeit, und wir alle haben sie beinahe
gleichmäßig durchlebt, mit der gleichen, von Radio und Zeitung gehetzten
Unruhe, den gleichen Hoffnungen und gleichen Sorgen. Wir alle denken heute
mit wenig Stolz an ihre politische Verblendung, und mit Grauen, wohin sie
uns geführt; wer erklären wollte, müßte anklagen, und wer von uns allen hätte
dazu ein Recht! Und dann: mein Leben in England war eine einzige
Zurückhaltung. So töricht ich mich wußte, eine derart überflüssige Hemmung
nicht bezähmen zu können, lebte ich in all diesen Jahren des Halbexils und
Exils von allem freimütig Geselligen ausgeschaltet durch den Wahn, ich dürfe
in einem fremden Lande nicht mitsprechen, wenn man die Zeit diskutierte.
Ich hatte in Österreich nichts ausrichten können gegen die Torheit der
führenden Kreise, wie sollte ich es hier versuchen, hier, wo ich mich als Gast
dieser guten Insel fühlte, der wohl wußte, daß, wenn er – mit unserem klaren,
besser informierten Wissen – auf die Gefahr hinwiese, die von Hitler der Welt
drohe, man dies als persönlich interessierte Meinung nehmen würde? Freilich,
es wurde manchmal hart, die Lippen zu verpressen angesichts der
offenkundigen Fehler. Es war schmerzvoll zu sehen, wie gerade die höchste
Tugend der Engländer, ihre Loyalität, ihr ehrlicher Wille, ohne
Gegenbeweis jedem andern zunächst Glauben zu schenken, von einer
musterhaft inszenierten Propaganda mißbraucht wurde. Immer wurde von
neuem vorgegaukelt, Hitler wolle doch nur die Deutschen der Randgebiete an
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286