Seite - 291 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 291 -
Text der Seite - 291 -
übliche erste Station Vigo vermeiden. Zu meiner Überraschung fuhren wir
dennoch in den Hafen ein, und es wurde uns Passagieren sogar gestattet, für
einige Stunden an Land zu gehen. Vigo befand sich damals in den Händen der
Franco-Leute und lag weit ab von dem eigentlichen Kriegsschauplatz.
Dennoch bekam ich in diesen wenigen Stunden einiges zu sehen, was
berechtigten Anlaß zu bedrückenden Gedanken geben konnte. Vor dem
Rathaus, von dem die Flagge Francos wehte, standen, meist von Priestern
geführt, junge Burschen in ihren bäuerlichen Gewändern aufgereiht, offenbar
aus den nachbarlichen Dörfern herangeholt. Ich verstand im ersten
Augenblick nicht, was man mit ihnen vorhatte. Waren es Arbeiter, die man
anwarb für irgendeinen Notdienst? Waren es Arbeitslose, die dort verköstigt
werden sollten? Aber nach einer Viertelstunde sah ich dieselben jungen
Burschen verwandelt aus dem Rathaus herauskommen. Sie trugen
blitzblanke, neue Uniformen, Gewehre und Bajonette; unter der Aufsicht von
Offizieren wurden sie auf ebenfalls ganz neue und blitzblanke Automobile
verladen und sausten durch die Straßen aus der Stadt hinaus. Ich erschrak. Wo
hatte ich das schon einmal gesehen? In Italien zuerst und dann in
Deutschland! Da und dort waren plötzlich diese tadellosen neuen Uniformen
dagewesen und die neuen Automobile und Maschinengewehre. Und wieder
fragte ich mich: wer liefert, wer bezahlt diese neuen Uniformen, wer
organisiert diese jungen blutarmen Menschen, wer treibt sie gegen die
bestehende Macht, gegen das gewählte Parlament, gegen ihre eigene legale
Volksvertretung? Der Staatsschatz befand sich, wie ich wußte, in den Händen
der legalen Regierung, und ebenso die Waffendepots. Es mußten also diese
Automobile, diese Waffen aus dem Ausland geliefert worden sein, und sie
waren zweifellos aus dem nahen Portugal über die Grenze gekommen. Aber
wer hatte sie geliefert, wer sie bezahlt? Es war eine neue Macht, die zur
Herrschaft kommen wollte, ein und dieselbe Macht, die da und dort am Werke
war, eine Macht, die Gewalt liebte, Gewalt benötigte, und der all die Ideen,
denen wir anhingen und für die wir lebten, Friede, Humanität, Konzilianz als
antiquierte Schwächlichkeiten galten. Es waren geheimnisvolle Gruppen,
verborgen in ihren Büros und Konzernen, die sich des naiven Idealismus der
Jugend zynisch bedienten für ihren Machtwillen und ihre Geschäfte. Es war
der Wille zur Gewalt, der mit einer neuen, subtileren Technik die alte
Barbarei des Krieges über unser unseliges Europa bringen wollte. Immer hat
ein einziger optischer, sinnlicher Eindruck mehr Macht über die Seele als
tausend Zeitungsartikel und Broschüren. Und nie stärker als in dieser Stunde,
da ich sah, wie diese jungen, unschuldigen Burschen von geheimnisvollen
Drahtziehern im Hintergrunde mit Waffen versehen wurden, die sie gegen
ebenso unschuldige junge Burschen ihres eigenen Vaterlandes wenden sollten,
überkam mich eine Ahnung dessen, was uns, was Europa bevorstand. Als
dann das Schiff nach einigen Stunden Aufenthalts wieder abstieß, ging ich
291
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286