Freuden für den Gaumen #
Im weltweiten Kampf gegen das Übergewicht sollten wir nicht nur darauf achten, was, sondern auch wie wir essen. Eine Genussanleitung. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag 17. Dezember 2015)
Von
Martin Tauss
Die westlichen Gesellschaften haben nicht nur ein Gewichtsproblem, sondern gleich ein doppeltes: Denn dieses Problem zeigt sich als bipolare Störung von Mager- und Fettsucht, durchaus analog zur manisch-depressiven Krankheit. Einerseits sind es vor allem junge Frauen, die sich an einem überzogenen Schlankheitsideal orientieren und beim Abmagern mitunter jedes Gefühl dafür verlieren, was noch gesund ist. Dieser gefährliche Trend hat dazu geführt, dass Regierungen sogar Verbote für „Magermodels“ erlassen haben – und der Body-Mass-Index (BMI) zum Maßstab für einen Strafbestand geworden ist. Die eiserne Disziplin beim Essen korrespondiert auf der anderen Seite des Spektrums mit einem grassierenden Kontrollverlust. Denn der Prozess der Verfettung schreitet in gigantischer Dimension voran.
Bis 2025 soll es laut aktuellem Bericht der Österreichischen Adipositas Gesellschaft weltweit 2,7 Milliarden übergewichtige Menschen geben. Angesichts der heutigen Zahl von zwei Milliarden Übergewichtigen bedeutet das eine satte Steigerung um rund ein Drittel in weniger als zehn Jahren, und somit auch einen wachsenden Therapiebedarf. Dass Europa bei der Fettleibigkeit nur knapp hinter dem Spitzenreiter Amerika liegt, hat kürzlich der Europäische Gesundheitsbericht gezeigt. „Die Adipositas- Epidemie hat praktisch jedes Land der Welt erreicht, und die Übergewichts- und Adipositas- Raten sind dabei, weiter in die Höhe zu klettern“, sagt Walmir Coutinho, Präsident der „World Obesity Federation“, einer medizinischen Allianz zur Erforschung des krankhaften Übergewichts.
Auf der Zunge zergehen lassen #
Eine ganze Industrie kümmert sich heute um die Gewichtskontrolle. Programme zur Gewichtsreduktion, Diätbücher und -nahrung, Kräuter und andere Hilfsmittel erzielen in Europa und den USA jährlich Milliardenumsätze. Und Pharmafirmen stecken Millionenbeträge in die Forschung, um Mittel gegen die Fettleibigkeit zu entwickeln. Doch die Wunderpille gibt es nicht, das medikamentengestützte Abnehmen ist bislang nicht ohne das Risiko von Nebenwirkungen zu haben. Auch der langfristige Erfolg von Diätprogrammen hält sich in Grenzen. Ei- ne herbe Enttäuschung brachte unlängst der US-amerikanische Gesundheits- und Ernährungsbericht: Allen Bemühungen zum Trotz ist der Anteil fettleibiger Menschen in den USA im letzten Jahr weiter gestiegen, und zwar von 35 auf 38 Prozent.
Die Notwendigkeit regulativer Maßnahmen wurde mittlerweile zwar anerkannt, aber ist das schon genug? „Die Regierungen könnten eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um Adipositas vorzubeugen“, fordert WOF-Präsident Coutinho, darunter „die Einführung strenger Regeln, um Kinder vor der Bewerbung ungesunder Nahrung zu schützen, die Förderung vollwertiger Ernährung in den Schulen, oder auch Steuer- und Fördergelder, die gesünderes Essen günstiger und ungesundes Essen teurer machen sollen.“ Es scheint jedoch, als ob im Kampf gegen das Gewichtsproblem bislang etwas Wichtiges übersehen wird.
Das geht über die Frage, was wir essen, weit hinaus. Vielmehr geht es auch darum, wie wir das tun. In welcher geistigen Verfassung nehmen wir unsere Nahrung zu uns? Sind wir zerstreut, gehetzt und abgelenkt – oder bringen wir dem Essen wirklich unsere ungeteilte Aufmerksamkeit entgegen? Wann immer das so ist, bietet sich die Gelegenheit, die Speise sprichwörtlich auszukosten und auf der Zunge zergehen zu lassen. Das ist der Zugang zu einem Genuss, bei dem hastige Gier unterbunden wird. Denn achtsames Essen vertieft sich in die augenblickliche Erfahrung – die köstliche Hauptspeise –, ohne dabei bereits an die leckere Nachspeise zu denken. Diese Form der Bewusstseinshaltung kann selbst simple Speisen zum sinnlichen Erlebnis machen: einen Apfel zum Beispiel, gelb-rot leuchtend, fruchtig-frisches Aroma verströmend, saftig-süßlich, mit leicht säuerlicher Note im Abgang. Achtsames Essen heißt gleichsam, jede Speise wie eine edle Weinverkostung zu zelebrieren und immer feinere Geschmacksnuancen zu sondieren.
„Während des Kauens gibt es nichts anderes, mit dem Sie Ihren Mund füllen – keine Projekte und keine Abgabetermine, keine Sorgen, keine To-do-Listen, keine Ängste und Nöte, keinen Ärger, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Da ist nur der Apfel“, schreiben Thich Nhat Hanh und Lilian Cheung in ihrer Anleitung zum achtsamen Essen: „Indem Sie einen Apfel auf diese Weise essen, bekommen Sie eine Kostprobe von Achtsamkeit.“ Der Zen-buddhistische Mönch und die in Harvard lehrende Ernährungswissenschaftlerin haben eine Verbindung von alter spiritueller Weisheit und moderner Wissenschaft vorgeschlagen, um beim Essen ohne Reue genießen zu lernen.
Aber Achtsamkeit bedeutet weit mehr als nur die Schulung unserer Genussfähigkeit. Wie die Autoren betonen, ist es auch ein probates Mittel, um Einsicht in tiefer liegende Probleme zu erhalten: In diesem Fall in die Dynamiken, die unserem Essverhalten zugrunde liegen, und somit auch in die alltäglichen Hindernisse, die einem gesunden Gewicht entgegenstehen. Das Spektrum dieser Hindernisse reicht von den harten Fakten des Lebensstils – zu viel Zucker, mangelnde Bewegung, zu wenig Schlaf etc. – bis hin zu den tiefer liegenden Motiven: Dient das Vollstopfen mit Kalorien vielleicht dazu, eine emotionale Leere zu füllen, Gefühle von Einsamkeit zu lindern oder Sorgen und Stress zu bewältigen? Ist das Essen ein Antidepressivum, eine Ersatzbefriedigung?
Früchte der Achtsamkeit #
Was auch immer es ist: Achtsamkeit ist hier wie das Aufdrehen einer Lampe, um in jene Bereiche unseres Selbst hineinzuleuchten, die sonst von blinden Gewohnheitsenergien überschattet sind. Und damit auch der allererste Schritt zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung, vorausgesetzt diese Form der Aufmerksamkeit wird trainiert und kultiviert. Denn so simpel die Anwendung der Achtsamkeit auch ist: Es bedarf der Übung und des Engagements, um ihre Früchte zu ernten – was auch immer das sein mag: ein schlauer Weg zum Genuss, ein Gefühl der Dankbarkeit, die Verbundenheit mit der Natur, oder auch ein Frühwarnsystem für Speisen, die uns nicht gut tun oder eben doch zuviel des Guten sind.
In der buddhistischen Weisheitslehre wird Achtsamkeit mit einem Türhüter verglichen, der darüber wacht, welcher Gast hinein darf und wer draußen bleiben muss. Das gilt übrigens nicht nur für das, was wir über den Mund aufnehmen, sondern auch für geistiges „Junk-Food“.
Heute sind die positiven Wirkungen von Achtsamkeit in vielen therapeutischen Einsatzgebieten gut belegt. Die Anzahl einschlägiger Forschungsarbeiten ist in den letzten zwei Jahrzehnten exponentiell gestiegen. Es scheint daher an der Zeit, das Achtsamkeitstraining flächendeckend in Gesundheitsprogrammen zur Adipositas- Prävention zu verankern. Ein Repertoire für entsprechende Angebote gibt es bereits, von der traditionellen Achtsamkeitsmeditation bis zum Programm des „Mindfulness-based Eating Training“. Das Gute an der Achtsamkeit ist die Tatsache, dass sie mäßigend wirkt, man von ihr selbst aber nicht genug haben kann. Sie ermöglicht die Wahl – und liegt somit einer gesunden und nachhaltigen Ernährung überhaupt zugrunde.
Achtsam essen - achtsam lebenVon Thich Nhat Hanh und Lilian Cheung.
O.W. Barth Verlag 2012.
302 Seiten, geb., €20,60