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Revolte und Reife 018
des Historismus der jeweilige Verwendungszweck durch den gewählten Stil zum Aus-
druck kam. So wurde etwa das Parlament in Anlehnung an die griechische demokrati-
sche Staatsführung in gräzisierendem Vokabular ausgeführt, wohingegen der Rückgriff
auf Renaissanceformen beim Bau der Universität auf den hohen Bildungsgrad bzw. das
ErblĂĽhen des Humanismus dieser Epoche hinweisen sollten.
Auch die nächste, um 1900 tätige Architektengeneration bediente sich dieser retros-
pektiven Gestaltungsweise. Karl König etwa galt als Meister des Neobarock und erbau-
te zahlreiche Wohnhäuser und Palais in dieser reichen Formensprache. Das bekanntes-
te, leider nicht mehr erhaltene Werk ist das Wohn- und Geschäftshaus »Philipp-Hof« in
Wien 1, Ecke Albertinaplatz und Augustinerstraße, das in den Jahren 1882–1884 entstan-
den war und an dessen Stelle sich heute das von Alfred Hrdlicka gestaltete Mahnmal ge-
gen Krieg und Faschismus befindet, nachdem das Gebäude bei einem amerikanischen
Luftangriff im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört und zum Massengrab für Hunderte Zivi-
listen geworden war, die in den darunterliegenden Kellern Zuflucht gesucht hatten. Die
abgerundete Ecke des Philipp-Hofs mit ihrer bekrönenden Kuppel war beispielgebend
für eine Reihe weiterer Eckhäuser gewesen und gleichsam in den Gestaltungskanon der
Bautätigkeit der Jahrhundertwende eingegangen. In allen historischen Stilen bewandert,
wendete König jedoch auch Renaissanceformen an, wie z. B. beim Haus der Industrie,
Wien 3, Schwarzenbergplatz 4, das zwischen 1906 und 1909 errichtet wurde. Als Leh-
rer strebte er indessen dezidiert die Synthese von historischer Schönheit und moder-
ner NĂĽtzlichkeit an. Seine auf dieser Zusammenschau basierende Lehrmethode vermit-
telte seinen Schülern das profunde Handwerkszeug, um eigene und zeitgemäße Wege
in der Architektur zu gehen, wie dies besonders erfolgreich beispielsweise Josef Frank
gelang. Ă„hnlich wie sein Studienkollege Rolf vollzog Frank vor dem Hintergrund seiner
traditionellen Ausbildung bei Karl König bereits früh den Schritt zu modernen Formu-
lierungen. Mit Möbelentwürfen, Wohnhausanlagen für die Gemeinde Wien und vor al-
lem mit der Planung und Organisation der Werkbundsiedlung in Wien 13 (  1930–1932  )
wurde er auch international bekannt.
Rolfs zweiter wichtiger Lehrer, Max Ferstel, beschäftigte sich mit den mittelalterlichen
Stilen, hielt aber auch Vorlesungen ĂĽber neue Fachgebiete wie z. B. ĂĽber Kultusbauten
der Neuzeit und war insbesondere an bodenständiger Heimatkunst, etwa am Fachwerk-
bau, interessiert. Karl Mayreder hingegen galt als ausgewiesener Spezialist fĂĽr den
Städtebau, eine Disziplin, die im Zuge der Stadterweiterung Wiens eine besondere Be-
deutung erlangt hatte.
Mit groĂźer Begeisterung und voller Ehrgeiz begann Rolf sein Studium und absolvier-
te in den folgenden Jahren beinahe sämtliche Prüfungen mit »sehr gutem« bzw. »vor-
züglichem« Erfolg. Schon im ersten Studienjahr hatte sich sein zeichnerisches Talent er-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273