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»Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 095
Kriegsteilnehmer in russische Gefangenschaft, was allein im Hinblick auf entsprechen-
de Unterbringungsmöglichkeiten eine ungeheure logistische Herausforderung darstellte.
Die wachsenden Versorgungsprobleme im ganzen Land fĂĽhrten zudem zu einer immer
schlechteren Ernährungslage in den Lagern, die im Laufe der Jahre jedoch auch die ei-
genen Soldaten sowie die Zivilbevölkerung in existenzielle Mitleidenschaft zog.
Eine Reihe von Bestimmungen wurde eigens dazu erlassen, um den Umgang mit
den gefangenen Offizieren zu reglementieren, deren Behandlung sich sehr deutlich von
der der Mannschaft unterschied. Viele der geltenden Begünstigungen für die höheren
Dienstgrade können in Rolfs Tagebuchaufzeichnungen unmittelbar nachvollzogen wer-
den. Die wesentlichsten Punkte waren:
• Für den Transport in die Lager mussten den Offizieren Waggons 2. oder 3. Klas-
se zur VerfĂĽgung gestellt werden.
• Während des Transportes zu den Lagern war an alle ein »Taggeld« auszuzahlen,
wobei die Offiziere wesentlich mehr als die Mannschaft zu erhalten hatten. Nach
der Ankunft in den Lagern wurde die Mannschaft verpflegt, während die Offi-
ziere selbst fĂĽr ihre Verpflegung zu sorgen hatten. Es war daher ein festgesetzter
Tagsatz an die Offiziere weiterhin auszuzahlen.
• Den Offizieren sollten angemessene Wohnräume, getrennt von der Mannschaft,
zugeteilt werden. Tatsächlich lebten sie teilweise in russischen Offiziersunterkünf-
ten oder auch in Privatwohnungen, wenn sie ihr Ehrenwort gaben, sich nicht ĂĽber
einen bestimmten Bereich hinaus zu entfernen. Die Mannschaft wurde zunächst
in russischen Kasernen untergebracht. Da jedoch die Kapazitäten dieser Gebäu-
de dem groĂźen Andrang bei Weitem nicht entsprachen, wurden zunehmend Er-
satzgebäude requiriert: Fabrikbauten, Gefängnisse, Zirkusgebäude, Stallungen,
Schulgebäude etc., in denen mit fortschreitender Kriegsdauer auch Offiziere ge-
meinsam mit der Mannschaft untergebracht wurden. In Sibirien, wo zumeist kei-
ne größeren Gebäude zur Verfügung standen, lebte die Mannschaft häufig in den
berüchtigten Erdbaracken: »Sie sind 1 ½ bis 2 m in die Erde eingegraben; die Gru-
benwände werden mit Balken verkleidet, die etwas über den Erdboden reichen
und die StĂĽtzen fĂĽr das Dach bilden. Die schmalen Fenster zu ebener Erde lassen
nur wenig Licht hineinfallen. Wenn im Winter Wälle von Schnee an die Wände
getürmt werden, sind die Baracken zwar wärmer, aber auch um so dunkler. Die
Einrichtung bestand aus Pritschen in zwei bis vier Stockwerken übereinander.« Es
gab zwei Ă–fen, jedoch wurde nie genĂĽgend Heizmaterial ausgegeben, und auch
Petroleum für die Lampen gab es wenig oder gar keines. (  Brändström, S. 46  )
• Die Offiziere durften im Gegensatz zu den einfachen Soldaten zu keinerlei Arbei-
ten herangezogen werden. In Artikel 6 der Haager Landkriegsordnung heiĂźt es:
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273