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Die Jahre in Sibirien 107
4.–6. Sept. Mein Fuß wird nicht besser, in Folge eines starken Ergußes um und im Knie
kann ich schlecht gehen und da ich keine Bewegung machen soll, sitze ich jetzt fort zu
Hause. Doktor verordnet mir eine Jodsalbe, aber das Rezept muĂź erst zur Unterschrift
an einen russ. Miltärarzt und dann soll es der Starschi bringen, aber diesen Weg macht
es (  mangels ungenügenden Trinkgeldes wahrscheinlich  ) nicht durch und so bleibe ich
ohne es. [  …  ] Recht trostlos, dazu wird das Wetter schon sehr unfreundlich, regnerisch
und empfindlich kĂĽhl, von zu Hause auch keine Nachrichten mehr.
7. Sept. Telegramm von Mutter trifft ein, das mir nicht ganz verständlich ist; es sagt, daß
Greta nach Bukarest gereist sei, dies und Mädis langes Schweigen beunruhigt mich
sehr und ich weiß sofort, daß die Kleine schlecht sein muß. – Leider darüber gar kei-
ne Nachrichten.
8.–14. Sept. Nach zwei Tagen langen Warten (  wodurch natürlich, wie bei jeder möglichen
Gelegenheit, die Spaziergänge sofort eingestellt sind 
) erscheint der angesagte General
( 
General Komarow 
! Bisheriger Kommandant des Gouvernements soll ersetzt worden sein
durch diesen General 
): Erscheinung recht ehrwĂĽrdig, und nach seinen Anfragen scheint
es als ob die Absicht bestĂĽnde, uns Besserungen zukommen zu lassen; Einquartierung
wurde als schlecht und zu gedrängt beurteilt. Wir sind recht froh und hoffen allerhand.
Aber es heiĂźt die Besichtigung sei noch nicht vorbei, daher auch die folgenden Tage kei-
ne Spaziergänge. Endlich kommt ein scheinbar kriegsuntauglich gewordener Porutschik
[  Russ. Leutnant  ]; dieser soll fortan sich um uns kümmern und die Stelle des Obersten
vertreten. Wir hoffen ihm unsere Anliegen vorbringen zu können und bald die Spazier-
gänge wieder aufnehmen zu dürfen.
Aber es wird immer strenger; die Wachen versperren die HaustĂĽre, nicht einmal die
Diener dĂĽrfen hinaus einkaufen, blos je ein Herr darf mit einem Soldaten einkaufen ge-
hen. Man verbietet sogar den Dienern das Trinkwasser aus dem vom Obersten bestimm-
ten Brunnen zu holen und zwingt uns das vollkommen verseuchte Wasser des Brunnen
in unserem Hofe auf ( 
3 m von Senk- und 3 m von Sickergrube entfernt  !  ). Schließlich er-
fahren wir, daß die Spaziergänge für immer eingestellt seien, da wir einen Hof hätten  !
Dieser ist zirka 7x18 Schritte groĂź und durch 2 Aborte, Senkgrube, Sickergrube, KĂĽche
und Hühner mit allen erdenklichen Gestänken erfüllt. Wir sind alle sehr niedergeschla-
gen und fĂĽhlen sich die meisten schon unwohl. Briefe kommen fast gar nicht mehr und
unsere Karten werden nur selten abgeholt. Offiziere kĂĽmmern sich scheinbar gar nicht
mehr um uns und sind wir allen Bosheiten und Erpressungen unserer Wachsoldaten und
besonders des Starschi 
! ĂĽberlassen. Zwei Herren vergiften sich schwer durch CO-Gas im
Dampfbad des Tartaren.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273