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Kriegsgefangenschaft 108
16. Sept. Von Ernst trifft die erste BĂĽchersendung mit Goethes und Schillers Briefen und
der russischen Grammatik ein. Endlich wieder etwas neues; doch leider sind keine Nach-
richten von zuhause enthalten. Anderntags beginne ich auch gleich in die Sprachstudi-
en einige Stunden des Tages Rumänisch einzufügen.
In der Haager Konvention wurde geregelt, dass die Gefangenen Post, Geldsendungen
und Pakete aus der Heimat erhalten durften. Allerdings funktionierte die Zustellung zu-
meist schleppend oder gar nicht. Einerseits waren die fĂĽr die Zustellung maĂźgebenden
Stellen häufig nicht fähig, die Adressen in der ihnen fremden Schrift zu entziffern, ande-
rerseits gab es zum Teil keine genauen Aufzeichnungen, in welchen Lagern sich die ein-
zelnen Adressaten befanden. Dazu kam, dass sämtliche Post die Zensur in Petersburg
durchlaufen musste, wo sich die Briefe und Pakete anhäuften. So berichtet Elsa Bränd-
ström, dass allein im Dezember 1915 rund eine Million Pakete in Petersburg der Weiter-
beförderung geharrt hätten. Vor allem aber dürften Unterschlagungen gang und gäbe
gewesen sein, sodass im ersten Kriegsjahr nur 10 Prozent der abgeschickten Pakete die
Angehörigen in den Lagern erreicht haben sollen. Auch Rolf klagte immer wieder, dass er
so selten Post erhielt. Akribisch vermerkt er, wenn ihn endlich doch Briefe von zu Hause
erreichten. Genauso notierte er, wann er Briefe an seine Familie abgesendet hatte. Doch
zeigte sich, dass nur ein Teil von ihnen den Bestimmungsort erreichte. In Anbetracht all
dieser Schwierigkeiten ist es fast erstaunlich, dass Rolf letztlich doch immer wieder Pa-
kete, Geldsendungen und BĂĽcher erhielt. Allerdings waren gerade BĂĽchersendungen
Anlass fĂĽr Schikanen vonseiten der Wachmannschaften. Wiederholt wurden die BĂĽcher
konfisziert – zum Teil auf einige Zeit, zum Teil für immer.
18. Sept. Nachdem wir lange Tage keinen Schritt aus dem Haus durften und alle erdenkli-
chen Vorstellungen gemacht hatten erlaubt man uns wieder, wenigstens eine Stunde im
Tag auf die gewiĂźe Wiese zu gehen. Alle Quartiere werden zusammengetrieben. Aber
auch diese Stunde entzieht man uns zu jeder denkbaren Gelegenheit  !
19. Sept. Ich kann mich auf noch lange an den Spaziergängen nicht beteiligen, da mein
Fuß nicht besser wird und bei jeder Gelegenheit wieder rückfällig wird. – Durch meinen
Darmkatarh gezwungen musste ich schon vor langer Zeit Essen bei unserer Kostfrau,
das von Tag zu Tag schlechter, unsauberer und mehr gewĂĽrzt wurde, aufgeben. Ich ko-
che mir seither selbst, und mein Darmzustand bessert sich bald, so daĂź nur selten noch
leichte Anfälle kommen.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273