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sicht bzw. die logistische Möglichkeit zu haben, sich an den Kämpfen aktiv zu beteiligen.
Das Motiv war die Angst vor Japans zunehmender imperialistischer Interessenpolitik und
die Hoffnung auf den Beistand der Alliierten gegen Japans territoriale Begehrlichkeiten.
Hilfe war allerdings nur zu bekommen, indem China den Feinden der Alliierten, Ă–ster-
reich-Ungarn und Deutschland, den Krieg erklärte. Als Folge mussten die deutschen und
österreichisch-ungarischen Konzessionsgebiete der chinesischen Regierung übergeben
werden, und 1919 im Friedensvertrag von St. Germain wurde Ă–sterreich schlieĂźlich ge-
nötigt, auf alle Vorrechte und Vorteile, die im Vertrag mit Peking 1901 festgesetzt wor-
den waren, zu verzichten. China unterstützte die Alliierten während des Krieges durch
die Bereitstellung von Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie, die Landwirtschaft und
andere Bereiche.
Als Rolf in China ankam, existierte in Tientsin jedoch – wenngleich mit stark einge-
schränkten Rechten – nach wie vor die österreichische Konzession, nunmehr unter der
offiziellen Bezeichnung »2. Sonderbezirk«, und auch die deutsche Konzession hat sich
als »1. Sonderbezirk« in ihrer Struktur weitgehend erhalten. Zunächst hielt sich Rolf je-
doch in dem Badeort Peitaiho auf. Wie er sich wohl fĂĽhlte, als er am Bahnsteig eines klei-
nen Bahnhofes in dem riesigen Reich China stand  ? Vorerst scheint er jedenfalls nicht die
unverzügliche Heimreise geplant zu haben. Möglicherweise fehlten ihm die finanziel-
len Mittel, sodass er sich zunächst um eine Arbeitsmöglichkeit umschauen musste. In ei-
ner der wenigen Tagebucheintragungen dieser Zeit berichtet Rolf, dass er sich zunächst
beim chinesischen Polizeioffizier gemeldet habe. Wahrscheinlich erfolgte das Gespräch
in Pidgin-Englisch, das vor allem durch die intensiven Handelsbeziehungen mit England
weit verbreitet war. ErnĂĽchternd muss fĂĽr Rolf gewesen sein, als sich herausstellte, dass
er – im Jahr 1920 – immer noch mit den Auswirkungen des verlorenen Ersten Weltkrie-
ges rechnen musste. Am 15. Februar schreibt Rolf in sein Tagebuch: »Unbehelligt in Pei-
taiho an, chinesischer Polizeioffizier [  …  ?  ], gegen Heimtransportbedrohungen der Eng-
länder und Franzosen gesichert und versteckt.«
Rolf hatte jedoch nicht nur mit dem verständnisvollen Polizeioffizier Glück, in gewis-
ser Weise kamen ihm auch die Auswirkungen der Opiumkriege zugute. Denn in China
hat die erzwungene Öffnung seiner Märkte und seiner Gesellschaft gegenüber den Eu-
ropäern bewirkt, dass das Land den Anschluss an die Entwicklungen der Moderne nach
westlichem Vorbild suchte. Das bedeutete, dass neben einer Reihe anderer Reformen
der Ausbau der Infrastruktur sowie städtebauliche Maßnahmen forciert wurden. Um die
Modernisierungen durchzufĂĽhren, fehlten allerdings in China die entsprechenden Fach-
leute, und ausländische Architekten waren daher hoch willkommen. Auch in Peitaiho er-
folgten gerade groĂź angelegte Planungen fĂĽr den Ausbau des kleinen Badeortes zu ei-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273