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Sehnsucht nach Ă–sterreich 239
Nichtsdestotrotz fĂĽhlte sich Rolf all die Jahre, die er in China lebte, seiner Familie in
Wien und generell seinem Heimatland sehr verbunden, und die familiären Beziehungen
sowie sonstige mit der Heimat gepflegte Kontakte waren ihm sehr wichtig.
Nachdem der Wunsch aller Familienmitglieder nach einem Wiedersehen immer drin-
gender wurde, plante Rolf im Jahr 1929 endlich eine Reise nach Europa. Die Welt, nach
der Hermine unverhohlen und Rolf insgeheim Heimweh hatte, war jedoch längst nicht
mehr dieselbe, die sie einige Monate später wirklich besuchen sollten. Als Rolf im Jahr
1913 seiner Frau nach Bukarest gefolgt war, war sein Heimatland die österreichisch-unga-
rische Monarchie, ein Vielvölkerstaat mit einer Fläche von rund 700. 
000 km2 und mit rund
53 Millionen Einwohnern gewesen. Bukarest hatte die Hauptstadt des Königreichs Ru-
mänien gebildet, das unmittelbar an Siebenbürgen, Teil der Habsburgermonarchie und
Herkunftsland von Hermines Eltern, angrenzte. Im Ersten Weltkrieg schlug sich Rumä-
nien auf die Seite der Entente, sodass sich Rolf und Hermine plötzlich als Bürger zweier
verfeindeter Länder und dementsprechenden Vorurteilen konfrontiert sahen. Nun aber,
als die Reise geplant wurde, erwartete die beiden eine grundsätzlich geänderte Situati-
on. Einerseits gab es die »Republik Österreich«, die nach dem Ersten Weltkrieg im Ver-
trag von Saint-Germain auf die Fläche von rund 84.  000 km2 und 6 Millionen Einwohner
reduziert worden war, andererseits hatte sich Hermines Heimat zu »Großrumänien« ent-
wickelt, das sich flächenmäßig verdoppelt hatte und nun seinerseits zum Vielvölkerstaat
geworden war. Zwischen den ehemaligen Nachbarstaaten lag der unabhängige Staat
Ungarn. Bedingt durch die verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkrieges befan-
den sich damals alle ehemals am Krieg beteiligten Staaten in einer Wirtschaftskrise von
unvorstellbarem AusmaĂź, und eine erhebliche Inflation sowie eine immens hohe Arbeits-
losigkeit bereiteten sowohl in Österreich als auch in Rumänien den Boden für politische
Unruhen und schlieĂźlich den Zweiten Weltkrieg.
Rolf und Hermine beschlossen, die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn anzu-
treten. Nachdem diese Linie während des russischen Bürgerkrieges über weite Strecken
zerstört worden war, war sie ab Mitte der 1920er-Jahre wieder hergestellt worden, wo-
von nicht nur der Briefverkehr profitierte – Pakete wurden allerdings erst ab dem Jahr
1937 befördert –, sondern auch der Personenverkehr, da sich die Dauer einer Reise nach
Europa im Vergleich zu einer Schiffsreise erheblich verkĂĽrzte. Als Rolf und Hermine sei-
nerzeit mit dem Schiff von Europa nach China reisten, waren sie rund sieben Wochen
unterwegs gewesen, während die Fahrt mit dem Zug nun rund zwölf Tage in Anspruch
nehmen sollte. Es ist schwer vorstellbar, welche Gedanken Rolf auf dieser Bahnfahrt be-
schäftigt haben müssen – als er Tag um Tag Strecken bereiste, die er bereits mehr als
zehn Jahre zuvor als Kriegsgefangener in Viehwaggons zurĂĽckgelegt hatte und die ihn
nun in die Gegenrichtung und als freien Mann mit Frau und Kindern in die Heimat fĂĽhr-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273