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Philosophie und Naturwissenschaft 851
noch ersprießlicher sei, wenn man eine bestimmte Passage voranstelle. Dabei handelt es
sich um das zweite Kapitel des dritten Buchs, das davon handelt, „dass die Wahrheit in-
nerlich ohne Lärmen spricht“ (quod veritas intus loquitur sine strepitu) : Demgemäß kann
allein Gott den menschlichen Geist erleuchten, im Gegensatz zu indirekten Vermittlern
wie Moses und den Propheten, die alles, was sie vermögen, einzig Gott verdanken. Iuve-
nalis befolgte diese Praxis, und die tägliche Lektüre der Passage regte ihn zum genauen
Nachdenken darüber an : War sie etwa nur metaphorisch zu verstehen ? Oder bezog sie sich
nur auf die Gnade und die übernatürliche Erleuchtung, von der die geschaffene Kausalität
ausgeschlossen ist ? In seiner Verlegenheit um eine Antwort holte er sich Rat bei der Hei-
ligen Schrift, den Kirchenvätern, Theologen und Philosophen. Zu seiner Überraschung
stellte er fest, dass Thomas nicht allein ist, sondern dass praktisch alle kirchlichen Auto-
ritäten mit ihm übereinstimmen, ganz besonders aber der Hl. Augustinus. In der Folge
studierte Iuvenalis Augustinus’ Werke gründlich auf diesen Sachverhalt hin, ebenso andere
Kirchenväter und -lehrer, besonders Thomas von Aquin und Bonaventura. Wenn er nun
seine Ergebnisse der Öffentlichkeit vorstelle, so geschehe das, weil sie vielleicht auch für
andere interessant seien und alles Gute geteilt werden sollte. Sein Buch helfe schließlich
dabei, Gott, das höchste Gut und das innere Licht des Menschen, zu erkennen. Eine ähn-
liche Erkenntnis habe Augustinus auf den rechten Weg gebracht, als er dem Manichäismus
abschwor und einsah, dass alles von Gott herrührt und damit alles gut ist.
Das erste Kapitel (1–70) diskutiert als Basis für alles Weitere die Natur der vernünfti-
gen menschlichen Seele (anima rationalis) und ihrer Erkenntnis der Welt. Zentral ist hier
die Unterscheidung einer subjektiven von einer objektiven ratio : Die subjektive ist unsere
menschliche Vernunft, mit der wir erkennen, die objektive hingegen das Sein, d.h. Gott,
nach dessen Maßgabe wir erkennen. Nichts außer Gott ist vernünftig erkennbar. Wenn wir
sagen, dass die Seele an der Vernunft teilhat, so meinen wir eine Teilhabe an der objektiven
Vernunft, eine Teilhabe an Gott, dem Licht der Erkenntnis. Gott ist die einzige unfehlbare
ratio, die Idee und das Maß, um alles zu erkennen, einzuschätzen, zu beurteilen usw. Das
zweite Kapitel (71–86), das gedankliche Kernstück des Werks, stellt den status quaestionis
(die „Fragestellung“) dar, um den es eigentlich geht : Gott ist das Licht der menschlichen
Erkenntnis. Man kann sich das durch die Analogie der Sonne (bzw. einer anderen Licht-
quelle) und des Auges vorstellen : Das Auge kann von sich aus gar nichts erkennen ; es
bedarf immer der Erleuchtung durch das von der Sonne gespendete Licht. Ebenso be-
darf der menschliche Geist der Sonne Gottes, um etwas vernunftgemäß zu erkennen. Ein
geschaffener Lehrmeister kann nur auf das Licht der Sonne hinweisen oder eine Kerze
halten ; er kann nie das Licht selbst ersetzen. Dass Gott das Objekt und die Maßregel der
Erkenntnis ist, ergibt sich aus einer Reihe von weiteren Überlegungen ; u.a. aus den uns
gemeinsamen Ideen, nach denen wir Dinge messen und beurteilen, etwa wenn wir davon
sprechen, dass jemand ein „Muster“ der Heiligkeit, Vollkommenheit, Gesundheit usw.
ist – die Idee der Ideen kann aber nur Gott sein ; aus der Tatsache, dass sich Wissenschaft
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 2
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 728
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Von der Gründung der Universität bis zur Aufhebung des Jesuitenordens (1773) Epochenbild (Lav Šubarić) 610
- Dichtung (Martin Korenjak) 620
- Theater (Stefan Tilg) 660
- Beredsamkeit, Dialog, Rhetorik (Florian Schaffenrath) 701
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić/Florian Schaffenrath/Patrik Kennel) 726
- Biographisches Schrifttum (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 778
- Brief (Wolfgang Kofler) 788
- Sprachdidaktik, Poetik, Philologie (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 797
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 807
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 833
- Medizin (Lukas Oberrauch) 862
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne/Erika Kustatscher) 875
- Von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848 Epochenbild (Florian Schaffenrath) 909
- Dichtung (Florian Schaffenrath) 918
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 941
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath/Erika Kustatscher) 953
- Biographisches Schrifttum (Patrik Kennel/Martin Korenjak) 980
- Brief (Wolfgang Kofler) 989
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 998
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 1022
- Medizin (Lav Šubarić) 1046
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 1056
- Von der Revolution 1848 bis heute Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 1073
- Dichtung (Stefan Tilg) 1079
- Prosa (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 1109
- Abkürzungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1159
- Bibliothekssiglen (Johanna Luggin) 1161
- Bibliographie (Johanna Luggin) 1162
- Abbildungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1265
- Index nominum (Johanna Luggin) 1271
- Index geographicus (Johanna Luggin/Simon Wirthensohn) 1299
- Index rerum (Johanna Luggin) 1310
- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 1322