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946 Von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848
ungewöhnliche
Rede Gemäß einem Dekret vom Vorjahr, zu Schuljahresbeginn sei an den Gymnasien jeweils eine
Rede ĂĽber einen prominenten Verstorbenen zu halten, wird der Redner ĂĽber Carlantonio
Pilati sprechen ([3]–[5]). Der Nonstaler Pilati erhielt seine Ausbildung in Salzburg und
Wien und kehrte als gebildeter Rechtsgelehrter in die Heimat zurĂĽck, wo er am Trientner
Gymnasium unterrichtete ([6]–[9]). Ab 1764 begann er zu publizieren. Sein Werk Di una
riforma d’Italia machte ihn berühmt, trug ihm aber auch so viel Feindschaft ein, dass er die
Heimat verließ und zu langjährigen Wanderungen durch ganz Europa aufbrach ([9]–[13]).
Erst 1781 kehrte er wieder heim, arbeitete als Rechtsanwalt, publizierte und bekleidete
verschiedene Ämter, bis er 1802 starb ([13]–[15]). Seine Geistesgaben wurden noch durch
seine Tugenden ĂĽbertroffen : Er war maĂźvoll, gerecht, menschenfreundlich, wahrheitslie-
bend, tapfer, großmütig ([15]–[20]). Sein Tod war der eines wahren Philosophen ([20]–
[21]). Er kann allen, v.a. den anwesenden Schülern, als Vorbild dienen ([21]–[22]).
Die Rede, die sich abgesehen von Proömium und Epilog klar in einen ersten, bio-
graphischen Teil und einen zweiten, systematischen zu Pilatis Tugenden gliedert,
ist nicht nur als Schul-, sondern auch als Leichenrede ungewöhnlich : Sie wurde
zehn Jahre nach dem Tod Pilatis (1733–1802) gehalten ; sie feiert mit diesem einen
bedeutenden Aufklärer, der weitreichende soziale, politische und kirchenrechtliche
Forderungen erhob und nach dem Erscheinen von Di una riforma d’Italia 1767 auf
Betreiben des Trientner Fürstbischofs ins Exil gehen musste (vgl. hier S. 893) ; und
sie ist mit ihren vielen Ortsangaben und Jahreszahlen sowie einer Bibliographie von
Pilatis wichtigsten Werken präziser und detailreicher als die Leichenreden früherer
Zeiten, wogegen die panegyrische Überhöhung des Gegenstands vergleichsweise
moderat bleibt (z.B. distanziert sich der Redner auf den S.Â
10–11 von manchen In-
halten von Di una riforma d’Italia). Während sie die letztgenannten Charakteristika
mit anderen zeitgenössischen Leichenreden teilt (s.u.), werden der ungewöhnliche
Rahmen des Vortrags und die Wahl des zu Feiernden erst verständlich, wenn man
sich ihren (bildungs)politischen Hintergrund vergegenwärtigt : Das zu Beginn er-
wähnte Dekret zur Gestaltung der Schuljahreseröffnung geht auf die Verwaltung
Napoleons zurück, unter dessen Herrschaft der Süden Tirols 1809–1813 zusam-
men mit dem Rest Italiens stand. (Tatsächlich befanden sich unter den Hörern der
Rede auch Napoleons Provinzpräfekt und andere seiner Magistrate, vgl. [3].) Es
möchte den Schulkindern nicht irgendwelche Vorbilder vor Augen führen, sondern
legt fest, dass der zu Lobende ein Italiener sein muss ([3]), und versucht so offenbar,
den italienischen Nationalstolz zu stärken und das Tiroler Zusammengehörigkeits-
gefühl zu schwächen (eine Intention, die sich der Redner zu eigen macht, wenn er
etwa mit Selbstverständlichkeit von Italia nostra spricht, vgl. z.B. [17]).4 Nachdem
4 Ob mit dieser politischen Absicht auch die angestrebte „Wiederherstellung der Latinität in den
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 2
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 728
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Von der Gründung der Universität bis zur Aufhebung des Jesuitenordens (1773) Epochenbild (Lav Šubarić) 610
- Dichtung (Martin Korenjak) 620
- Theater (Stefan Tilg) 660
- Beredsamkeit, Dialog, Rhetorik (Florian Schaffenrath) 701
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić/Florian Schaffenrath/Patrik Kennel) 726
- Biographisches Schrifttum (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 778
- Brief (Wolfgang Kofler) 788
- Sprachdidaktik, Poetik, Philologie (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 797
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 807
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 833
- Medizin (Lukas Oberrauch) 862
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne/Erika Kustatscher) 875
- Von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848 Epochenbild (Florian Schaffenrath) 909
- Dichtung (Florian Schaffenrath) 918
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 941
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath/Erika Kustatscher) 953
- Biographisches Schrifttum (Patrik Kennel/Martin Korenjak) 980
- Brief (Wolfgang Kofler) 989
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 998
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 1022
- Medizin (Lav Šubarić) 1046
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 1056
- Von der Revolution 1848 bis heute Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 1073
- Dichtung (Stefan Tilg) 1079
- Prosa (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 1109
- AbkĂĽrzungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1159
- Bibliothekssiglen (Johanna Luggin) 1161
- Bibliographie (Johanna Luggin) 1162
- Abbildungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1265
- Index nominum (Johanna Luggin) 1271
- Index geographicus (Johanna Luggin/Simon Wirthensohn) 1299
- Index rerum (Johanna Luggin) 1310
- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 1322