Page - 1108 - in TYROLIS LATINA - Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 2
Image of the Page - 1108 -
Text of the Page - 1108 -
1108 Von der Revolution 1848 bis heute
Gelieben Lesbia schreibt, tagträumt und fantasiert und zwischendurch immer wie-
der auf die Realität zurückgeworfen wird. Statt mit einer linearen Erzählung wird
der Leser mit einer assoziativen Kette von Catulls Vorstellungen und Befindlichkei-
ten konfrontiert. Als Beispiel hier der Eingang des Gedichts :
Alter abit, fugit altera, amat pueri ora tenere
In teneris digitis et amoris rite susurris,
Donec in amplexu timida cum voce Catulli
Se recipit sese atque cito super oscula mittit …
Tum vates manibus deponit lumina, vultus
Haeret imaginibus multis nullisque propinquat,
At volucrum sequitur nitido sub vespere rixas
Quae loca muta domus variis cum lusibus implent
Ac modo gaudet eis, modo fluxa in amygdala quaerit
Quod chorus ille canit : tacitam scrutatus amicam,
Non valet esse quod est […].
Der eine geht, die andre flieht, sie liebt es, das Gesicht des Burschen in ihren zarten Fin-
gern zu halten und im Säuseln der Liebe, bis sie sich mit ängstlicher Stimme in die Um-
armung Catulls zurückzieht und sich gleich auf Küsse verlegt… Da nimmt der Dichter
die Hände von seinen Augen, das Antlitz hängt an vielen Bildern und nähert sich keinem,
doch den Streitereien der Vögel folgt er im glänzenden Abend, die die stummen Orte des
Hauses mit mancherlei Tändeln füllen, und bald freut er sich an ihnen, bald fragt er sich,
was dieser Chor ins weich herabhängende Laub der Mandelbäume singt : Er hat seiner
stummen Freundin nachgeforscht, er vermag nicht zu sein, was er ist […].
Der Einstieg erfolgt so abrupt, dass sich der Leser erst nach einer Weile orientieren
kann. Nach den drei Punkten – sie stehen schon im Originaltext so, um den Sprung
bzw. Szenenwechsel anzudeuten – sehen wir Catull, der sich gerade ausgemalt hat,
wie Lesbia in seinem Arm liegt und ihn kĂĽsst. Allein in seinem Haus schreibend
bzw. dichtend – wie der Leser später noch genauer erfährt – kann und will er Reali-
tät und Fantasie nicht auseinanderhalten (darauf spielt es wohl an, dass er nicht zu
sein vermag, was er ist). So wechseln sich im Gedicht immer Catulls Vorstellungs-
bilder mit Szenen seiner raum-zeitlichen Befindlichkeit ab – hier z.B. beobachtet
er die Vögel in der Abenddämmerung. Die Grundidee lässt sich natürlich auch auf
den Dichter generell ĂĽbertragen, der zwischen der Welt der Vorstellung und jener
der Realität lebt. Pisini macht es dem Leser nicht immer einfach : Sein Wortschatz
ist exquisit, sein Ausdruck kĂĽhn, sein Gedankengang sprunghaft. Genau das sind in
diesem Fall aber Qualitäten, für deren Erschließung sich etwas Mühe lohnt.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 2
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 728
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Von der Gründung der Universität bis zur Aufhebung des Jesuitenordens (1773) Epochenbild (Lav Šubarić) 610
- Dichtung (Martin Korenjak) 620
- Theater (Stefan Tilg) 660
- Beredsamkeit, Dialog, Rhetorik (Florian Schaffenrath) 701
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić/Florian Schaffenrath/Patrik Kennel) 726
- Biographisches Schrifttum (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 778
- Brief (Wolfgang Kofler) 788
- Sprachdidaktik, Poetik, Philologie (Gabriela Kompatscher/Martin Korenjak) 797
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 807
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 833
- Medizin (Lukas Oberrauch) 862
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne/Erika Kustatscher) 875
- Von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848 Epochenbild (Florian Schaffenrath) 909
- Dichtung (Florian Schaffenrath) 918
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 941
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath/Erika Kustatscher) 953
- Biographisches Schrifttum (Patrik Kennel/Martin Korenjak) 980
- Brief (Wolfgang Kofler) 989
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 998
- Philosophie und Naturwissenschaft (Stefan Tilg/Martin Korenjak) 1022
- Medizin (Lav Šubarić) 1046
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 1056
- Von der Revolution 1848 bis heute Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 1073
- Dichtung (Stefan Tilg) 1079
- Prosa (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 1109
- AbkĂĽrzungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1159
- Bibliothekssiglen (Johanna Luggin) 1161
- Bibliographie (Johanna Luggin) 1162
- Abbildungsverzeichnis (Johanna Luggin) 1265
- Index nominum (Johanna Luggin) 1271
- Index geographicus (Johanna Luggin/Simon Wirthensohn) 1299
- Index rerum (Johanna Luggin) 1310
- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 1322