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Schulbüchern. Er schien nichts zu entbehren. Er besaß einen saubern,
nüchternen und ehrlichen Verstand. Seine karge Phantasie gab ihm keinen
anderen Wunsch ein als den, die Schuljahre, so schnell es ging, zu überstehen.
Er war achtzehn Jahre alt, als ihm der Vater am Weihnachtsabend sagte:
»Dies Jahr kriegst du keine drei Gulden mehr! Du darfst dir gegen Quittung
neun aus der Kassette nehmen. Gib acht mit den Mädeln! Die meisten sind
krank!« Und, nach einer Pause: »Ich habe beschlossen, daß du Jurist wirst.
Bis dahin hast du noch zwei Jahre. Mit dem Militär hat es Zeit. Man kann’s
aufschieben, bis du fertig bist.«
Der Junge nahm die neun Gulden ebenso gehorsam entgegen wie den
Wunsch des Vaters. Er besuchte die Mädchen selten, wählte sorgfältig unter
ihnen und besaß noch sechs Gulden, als er in den Sommerferien wieder
heimkam. Er bat den Vater um die Erlaubnis, einen Freund einzuladen. »Gut«,
sagte etwas erstaunt der Major. Der Freund kam mit wenig Gepäck, aber
einem umfangreichen Malkasten, der dem Hausherrn nicht gefiel. »Er malt?«
fragte der Alte. »Sehr schön!« sagte Franz, der Sohn. »Er soll keine Kleckse
im Haus machen! Er soll die Landschaft malen!« Der Gast malte zwar
draußen, aber keineswegs die Landschaft. Er porträtierte den Baron Trotta aus
dem Gedächtnis. Jeden Tag am Tisch lernte er die Züge seines Hausherrn
auswendig. »Was fixiert Er mich?« fragte der Baron. Beide Jungen wurden
rot und sahen aufs Tischtuch. Das Porträt kam dennoch zustande und wurde
dem Alten beim Abschied im Rahmen überreicht. Er studierte es bedächtig
und lächelnd. Er drehte es um, als suchte er auf der Rückseite noch weitere
Einzelheiten, die auf der vorderen Fläche ausgelassen sein mochten, hielt es
gegen das Fenster, dann weit vor die Augen, betrachtete sich im Spiegel,
verglich sich mit dem Porträt und sagte schließlich: »Wo soll es hängen?« Es
war seit vielen Jahren seine erste Freude. »Du kannst deinem Freund Geld
borgen, wenn er was braucht«, sagte er leise zu Franz. »Vertragt euch nur
gut!« Das Porträt war und blieb das einzige, was man jemals vom alten Trotta
angefertigt hatte. Es hing später im Wohnzimmer seines Sohnes und
beschäftigte noch die Phantasie des Enkels …
Inzwischen erhielt es den Major ein paar Wochen in seltener Laune. Er
hängte es bald an diese, bald an jene Wand, betrachtete mit geschmeicheltem
Wohlgefallen seine harte, vorspringende Nase, seinen bartlosen, blassen und
schmalen Mund, die mageren Backenknochen, die wie Hügel vor den kleinen,
schwarzen Augen lagen, und die kurze, vielgefurchte Stirn, überdacht von
dem scharf gestutzten, borstigen und stachelig vorgeneigten Haar. Er lernte
erst jetzt sein Angesicht kennen, er hielt manchmal stumme Zwiesprache mit
seinem Angesicht. Es weckte in ihm nie gekannte Gedanken, Erinnerungen,
unfaßbare, rasch verschwimmende Schatten von Wehmut. Er hatte erst des
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik