Seite - 21 - in Radetzkymarsch
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Köpfe hängen und gedachten ihrer Manöver. Die ältlichen Frauen saßen im
benachbarten Park, und ihre kleinen, grauen Köpfchen zitterten. Und es war
Sommer.
Ja, es war Sommer. Die alten Kastanien gegenüber dem Haus des
Bezirkshauptmanns bewegten nur am Morgen und am Abend ihre
dunkelgrünen, reich und breit belaubten Kronen. Tagsüber verharrten sie
reglos, atmeten einen herben Atem aus und schickten ihre weiten, kühlen
Schatten bis in die Mitte der Straße. Der Himmel war ständig blau.
Unaufhörlich trillerten die unsichtbaren Lerchen über der stillen Stadt.
Manchmal rollte über ihr holpriges Kopfsteinpflaster ein Fiaker, in dem ein
Fremder saß, vom Bahnhof zum Hotel. Manchmal trappelten die Hufe des
Zweigespanns, das Herrn von Winternigg spazierenführte, durch die breite
Straße, von Norden nach Süden, vom Schloß des Gutsbesitzers zu seinem
immensen Jagdrevier. Klein, alt und kümmerlich, ein gelbes Greislein in einer
großen, gelben Decke und mit einem winzigen, verdorrten Gesicht, saß Herr
von Winternigg in seiner Kalesche. Wie ein kümmerliches Stückchen Winter
fuhr er durch den satten Sommer. Auf elastischen und lautlosen hohen
Gummirädern, deren braun lackierte, zarte Speichen die Sonne spiegelten,
rollte er geradewegs aus dem Bett zu seinem ländlichen Reichtum. Die
großen, dunklen Wälder und die blonden grünen Förster harrten schon seiner.
Die Bewohner der Stadt grüßten ihn. Er antwortete nicht. Unbewegt fuhr er
durch ein Meer von Grüßen. Sein schwarzer Kutscher ragte steil in die Höhe,
der Zylinder streifte fast die Kronen der Kastanien, die biegsame Peitsche
streichelte die braunen Rücken der Rösser, und aus dem geschlossenen
Munde des Kutschers kam in ganz bestimmten, regelmäßigen Abständen ein
knallendes Schnalzen, lauter als das Hufgetrappel und ähnlich einem
melodischen Flintenschuß.
Um diese Zeit begannen die Ferien. Der fünfzehnjährige Sohn des
Bezirkshauptmanns, Carl Joseph von Trotta, Schüler der
Kavalleriekadettenschule in Mährisch-Weißkirchen, empfand seine
Geburtsstadt als einen sommerlichen Ort; sie war die Heimat des Sommers
wie seine eigene. Weihnachten und Ostern war er bei seinem Onkel
eingeladen. Nach Hause kam er nur in den Sommerferien. Der Tag seiner
Ankunft war immer ein Sonntag. Es geschah nach dem Willen seines Vaters,
des Herrn Bezirkshauptmanns Franz Freiherrn von Trotta und Sipolje.
Sommerferien hatten, mochten sie in der Anstalt an welchem Tag immer
beginnen, zu Hause jedenfalls am Samstag anzubrechen. Am Sonntag hatte
Herr von Trotta und Sipolje keinen Dienst. Den ganzen Vormittag von neun
bis zwölf reservierte er für seinen Sohn. Pünktlich zehn Minuten vor neun,
eine Viertelstunde nach der ersten Messe, stand der Junge in der
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik