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Stumm und aufrecht, von einer Qual bedrängt, der er keinen Namen hätte
geben können, die er niemals gekannt hatte und die wie eine rätselhafte
Krankheit aus fernen Zonen war, fuhr Carl Joseph ins Hotel. Es gelang ihm
noch, »Pardon, Papa!« zu sagen. Dann schloß er sein Zimmer ab, packte den
Koffer aus und zog die Mappe hervor, in der ein paar Briefe der Frau Slama
lagen, in den Umschlägen, wie sie gekommen waren, mit der chiffrierten
Adresse, Mährisch-Weißkirchen, poste restante. Die blauen Blätter hatten die
Farbe des Himmels und ein Hauch von Reseda, und die zarten, schwarzen
Buchstaben flogen wie eine geordnete Schar schlanker Schwalben dahin.
Briefe der toten Frau Slama! Sie erschienen Carl Joseph als die frühen
Künder ihres plötzlichen Endes, von der geisterhaften Feinheit, die nur
todgeweihten Händen entströmt, vorweggenommene Grüße aus dem Jenseits.
Den letzten Brief hatte er nicht beantwortet. Die Ausmusterung, die Reden,
der Abschied, die Messe, die Ernennung, der neue Rang und die neuen
Uniformen verloren ihre Bedeutung vor dem gewichtlosen, dunklen Zug der
beschwingten Buchstaben auf blauem Hintergrund. Noch lagen auf seiner
Haut die Spuren der liebkosenden Hände der toten Frau, und in seinen
eigenen warmen Händen barg sich noch die Erinnerung an ihre kühle Brust,
und mit geschlossenen Augen sah er die selige Müdigkeit in ihrem
liebessatten Angesicht, den offenen, roten Mund und den weißen Schimmer
der Zähne, den lässig gekrümmten Arm, in jeder Linie des Körpers den
fließenden Abglanz wunschloser Träume und glücklichen Schlafs. Jetzt
krochen die Würmer über Brust und Schenkel, und gründliche Verwesung
zerfraß das Gesicht. Je stärker die gräßlichen Bilder des Zerfalls vor den
Augen des jungen Mannes wurden, desto heftiger entzündeten sie seine
Leidenschaft. Sie schien in die unbegreifliche Unbegrenztheit jener Bezirke
hinauszuwachsen, in denen die Tote verschwunden war. Wahrscheinlich hätte
ich sie gar nicht mehr besucht! dachte der Leutnant. Ich hätte sie vergessen.
Ihre Worte waren zärtlich, sie war eine Mutter, sie hat mich geliebt, sie ist
gestorben! Es war klar, daß er Schuld an ihrem Tode trug. An der Schwelle
seines Lebens lag sie, eine geliebte Leiche.
Es war die erste Begegnung Carl Josephs mit dem Tode. An seine Mutter
erinnerte er sich nicht mehr. Nichts mehr kannte er von ihr als Grab und
Blumenbeet und zwei Photographien. Nun zuckte der Tod vor ihm auf wie ein
schwarzer Blitz, traf seine harmlose Freude, versengte seine Jugend und
schmetterte ihn an den Rand der verhängten Gründe, die das Lebendige vom
Gestorbenen trennen. Vor ihm lag also ein langes Leben voller Trauer. Er
rüstete sich, es zu erleiden, entschlossen und blaß, wie es einem Manne
geziemt. Er packte die Briefe ein. Er schloß den Koffer. Er ging in den
Korridor, klopfte an die Tür seines Vaters, trat ein und hörte wie durch eine
dicke Wand aus Glas die Stimme des Alten: »Es scheint, daß du ein weiches
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik