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Es ist einen Augenblick still, nur der Regen prasselt auf das arme,
blaßblaue Päckchen, färbt es ganz dunkel, es kann nicht länger warten, das
Päckchen. Carl Joseph nimmt es, versenkt es in die Manteltasche, wird rot,
denkt einen Moment daran, den Handschuh von der Rechten abzustreifen,
besinnt sich, streckt die Hand im Leder dem Wachtmeister hin, sagt
»Herzlichen Dank!« und geht schnell.
Er fühlt das Päckchen wohl in der Tasche. Von dort her, durch die Hand,
den Arm entlang, quillt eine unbekannte Hitze auf und rötet noch stärker sein
Angesicht. Er fühlt jetzt, daß man den Kragen aufmachen müßte, wie er
früher geglaubt hat, ihn hochschlagen zu müssen. Der bittere Nachgeschmack
des Himbeerwassers ist wieder im Mund. Carl Joseph zieht das Päckchen aus
der Tasche. Ja, es ist kein Zweifel. Das sind seine Briefe.
Es müßte jetzt endlich Abend werden und der Regen aufhören. Es müßte
sich manches in der Welt verändern, die Abendsonne vielleicht noch einen
letzten Strahl hierherschicken. Durch den Regen atmen die Wiesen den
wohlbekannten Duft, und der einsame Ruf eines fremden Vogels ertönt,
niemals hat man ihn hier gehört, es ist wie eine fremde Gegend. Man hört
fünf Uhr schlagen, es ist also genau eine Stunde her – nicht mehr als eine
Stunde. Soll man schnell gehn oder langsam? Die Zeit hat einen fremden,
rätselhaften Gang, eine Stunde ist wie ein Jahr Es schlägt fünf ein Viertel.
Man hat kaum ein paar Schritte zurückgelegt. Carl Joseph beginnt, schneller
auszuschreiten. Er geht über die Geleise, hier beginnen die ersten Häuser der
Stadt. Man geht an dem Café des Städtchens vorbei, es ist das einzige Lokal
mit einer modernen Drehtür im Ort. Es ist vielleicht gut, einzutreten, einen
Cognac zu trinken, im Stehn, und wieder wegzugehn. Carl Joseph tritt ein.
»Schnell, einen Cognac«, sagt er am Büfett. Er bleibt in Mütze und Mantel,
ein paar Gäste stehen auf. Man hört das Klappern der Billardkugeln und der
Schachfiguren. Offiziere der Garnison sitzen im Schatten der Nischen, Carl
Joseph sieht sie nicht und grüßt sie nicht. Nichts ist dringender als Cognac. Er
ist blaß, die fahlblonde Kassiererin lächelt mütterlich von ihrem erhabenen
Platz und legt mit gütiger Hand ein Stück Würfelzucker neben die Tasse. Carl
Joseph trinkt auf einen Zug. Er bestellt sofort das nächste. Er sieht vom
Angesicht der Kassiererin nur einen hellblonden Schimmer und die zwei
Goldplomben in den Mundwinkeln. Es ist ihm, als täte er etwas Verbotenes,
und er weiß nicht, warum es verboten sein sollte, zwei Cognacs zu trinken. Er
ist schließlich nicht mehr Kadettenschüler. Warum sieht ihn die Kassiererin so
merkwürdig lächelnd an? Ihr marineblauer Blick ist ihm peinlich, und das
gekohlte Schwarz der Augenbrauen. Er wendet sich um und sieht in den Saal.
Dort in der Ecke neben dem Fenster sitzt sein Vater.
Ja, es ist der Bezirkshauptmann – und was ist daran weiter verwunderlich?
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik