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vor den andern, als ginge er auf Eis. Seine Brillengläser schienen allmählich
klarer zu werden. Grüße kamen ihm von allen Seiten entgegen. Nicht ohne
Mühe erkannte er die Herren wieder. Er beugte sich vor, um in den Gesichtern
zu lesen, wie man in Büchern studiert. Vor dem Obersten Kovacs blieb er
endlich stehen, mit gereckter Brust. Es sah stark übertrieben aus, wie er so
den ewig vorgeneigten Kopf am dünnen Hals zurückwarf und seine
abschüssigen, schmalen Schultern mit einem Ruck zu heben suchte. Man
hatte ihn, während seines langen Krankheitsurlaubs, beinahe vergessen; ihn
und sein unmilitärisches Wesen. Man betrachtete ihn jetzt nicht ohne
Überraschung. Der Oberst beeilte sich, dem vorschriftsmäßigen Ritus der
Begrüßung ein Ende zu machen. Er schrie, daß die Gläser zitterten: »Gut
schaut er aus, der Doktor!«, als wollte er es der ganzen Armee mitteilen. Er
schlug seine Hand auf die Schulter Demants, wie um sie wieder in ihre
natürliche Lage zu bringen. Sein Herz war allerdings dem Regimentsarzt
zugetan. Aber der Kerl war unmilitärisch, Sapperlot, Donnerwetter! Wenn er
nur ein bißchen militärischer wäre, brauchte man sich nicht immer so
anzustrengen, um ihm gut zu sein. Man hätte auch, zum Teufel, einen anderen
Doktor schicken können, grad in sein Regiment! Und diese ewigen
Schlachten, die das Gemüt des Obersten seinem soldatischen Geschmack zu
liefern hatte, wegen dieses verfluchten, netten Kerls, konnten schon einen
alten Soldaten aufreiben. An diesem Doktor gehe ich noch zugrunde! dachte
der Oberst, wenn er den Regimentsarzt zu Pferde sah. Und eines Tages hatte
er ihn gebeten, lieber nicht durch die Stadt zu reiten.
Man muß ihm was Nettes sagen, dachte er aufgeregt. Das Schnitzel war
heute ausgezeichnet! fiel ihm in der Eile ein. Und er sagte es. Der Doktor
lächelte. Er lächelt ganz zivilistisch, der Kerl! dachte der Oberst. Und
plötzlich entsann er sich, daß da noch einer war, der den Doktor nicht kannte.
Der Trotta natürlich! Er war eingerückt, als der Doktor in Urlaub gegangen
war. Der Oberst lärmte: »Unser Jüngster, der Trotta! Ihr kennt euch noch
nicht!« Und Carl Joseph trat vor den Regimentsarzt.
»Enkel des Helden von Solferino?« fragte Doktor Demant.
Man hätte ihm diese genaue Kenntnis der militärischen Geschichte nicht
zugetraut.
»Alles weiß er, unser Doktor!« rief der Oberst. »Er ist ein Bücherwurm!«
Und zum erstenmal in seinem Leben gefiel ihm das verdächtige
Wort Bücherwurm so gut, daß er noch einmal wiederholte: »Ein
Bücherwurm!« in dem liebkosenden Ton, in dem er sonst nur zu sagen
pflegte: »Ein Ulane!«
Man setzte sich wieder, und der Abend nahm den üblichen Verlauf. »Ihr
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik