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Großvater«, sagte der Regimentsarzt, »war einer der merkwürdigsten
Menschen der Armee. Haben Sie ihn noch gekannt?« »Ich habe ihn nicht
mehr gekannt«, antwortete Carl Joseph. »Sein Bild hängt bei uns zu Hause im
Herrenzimmer. Wie ich klein war, hab’ ich es oft betrachtet. Und sein Diener,
der Jacques, ist noch bei uns.« »Was ist das für ein Bild?« fragte der
Regimentsarzt. »Ein Jugendfreund hat es gemalt!« sagte Carl Joseph. »Es ist
ein merkwürdiges Bild. Es hängt ziemlich hoch. Als ich klein war, mußte ich
auf einen Stuhl steigen. Da hab’ ich es betrachtet.«
Sie waren ein paar Augenblicke still. Dann sagte der Doktor: »Mein
Großvater war ein Schankwirt; ein jüdischer Schankwirt in Galizien. Galizien,
kennen Sie das?« (Ein Jude war der Doktor Demant. Alle Anekdoten
enthielten jüdische Regimentsärzte. Zwei Juden hatte es auch in der
Kadettenschule gegeben. Sie waren dann zur Infanterie gekommen.)
»Zu Resi, zu Tante Resi!« rief plötzlich jemand.
Und alle wiederholten: »Zu Resi. Man geht zur Resi!«
»Zur Tante Resi!«
Nichts hätte Carl Joseph stärker erschrecken können als dieser Ruf. Seit
Wochen erwartete er ihn voller Angst. Vom letzten Besuch im Bordell der
Frau Horwath behielt er noch alles in deutlicher Erinnerung alles! den Sekt,
der aus Kampfer und Limonade bestand, den weichen, fleischigen Teig der
Mädchen, das schmetternde Rot und das irrsinnige Gelb der Tapeten, im
Korridor den Geruch von Katzen, Mäusen und Maiglöckchen und das
Sodbrennen zwölf Stunden später. Er war kaum eine Woche eingerückt, und
es war sein erster Besuch in einem Bordell gewesen. »Liebesmanöver!« sagte
Taittinger. Er war der Anführer. Es gehörte zu den Obliegenheiten eines
Offiziers, der die Messe seit undenklichen Zeiten verwaltete. Bleich und
hager, den Korb des Säbels im Arm, mit langen, dünnen und sanft klirrenden
Schritten ging er im Salon der Frau Horwath von einem Tisch zum andern,
ein schleichender Mahner zu saurer Freude. Kindermann war der Ohnmacht
nahe, wenn er nackte Frauen roch, das weibliche Geschlecht machte ihm
Übelkeiten. Der Major Prohaska stand in der Toilette, ehrlich bemüht, seinen
dicken, kurzen Finger in den Gaumen zu stecken. Die seidenen Röcke der
Frau Resi Horwath raschelten gleichzeitig in allen Winkeln des Hauses. Ihre
großen, schwarzen Augenbälle rollten ohne Richtung und Ziel in ihrem
breiten, mehligen Antlitz herum, weiß und groß wie Klaviertasten schimmerte
in ihrem breiten Mund das falsche Gebiß. Trautmannsdorff verfolgte von
seiner Ecke aus alle ihre Bewegungen mit winzigen, flinken, grünlichen
Blicken. Er stand schließlich auf und steckte eine Hand in den Busen der Frau
Horwath. Sie verlor sich drinnen wie eine weiße Maus in weißen Bergen. Und
Pollak, der Klavierspieler, saß mit gebeugtem Rücken, Sklave der Musik, am
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik