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der Leutnant Trotta erscheinen. Er löste sich, ein schwarzer Strich, von dem
mächtigen Weiß der Kaserne und näherte sich dem Doktor. Noch drei
Minuten. Sie standen einander gegenüber. Jetzt standen sie einander
gegenüber. Der Leutnant salutierte. Doktor Demant hörte sich selbst wie aus
einer unendlichen Ferne: »Sie waren heute nachmittag bei meiner Frau, Herr
Leutnant?«
Die Frage widerhallte vom blauen, gläsernen Gewölbe des Himmels.
Längst, seit Wochen, sagten sie einander du. Sie sagten einander du. Nun aber
standen sie sich gegenüber wie Feinde.
»Ich war heute nachmittag bei Ihrer Frau, Herr Regimentsarzt!« sagte der
Leutnant.
Doktor Demant trat ganz nahe an den Leutnant: »Was gibt es zwischen
meiner Frau und Ihnen, Herr Leutnant?« Die starken Brillengläser des
Doktors funkelten. Der Regimentsarzt hatte keine Augen mehr, nur Brillen.
Carl Joseph schwieg. Es war, als gäbe es in der ganzen weiten, großen Welt
keine Antwort auf die Frage Doktor Demants. Man hätte Jahrzehnte umsonst
nach einer Antwort suchen können; als wäre die Sprache der Menschen
ausgeschöpft und für ewige Zeiten verdorrt. Das Herz schlug mit schnellen,
trockenen, harten Schlägen gegen die Rippen. Trocken und hart klebte die
Zunge am Gaumen. Eine große, grausame Leere rauschte durch den Kopf. Es
war, als stünde man knapp vor einer namenlosen Gefahr und als hätte sie
einen zugleich bereits verschlungen. Man stand vor einem riesigen,
schwarzen Abgrund:, und gleichzeitig war man bereits von seiner Finsternis
überwölbt. Aus einer vereisten, glasigen Ferne erklangen die Worte Doktor
Demants, tote Worte, Leichen von Worten: »Antworten Sie, Herr Leutnant!«
Nichts. Stille. Die Sterne funkeln, und der Mond schimmert. »Antworten
Sie, Herr Leutnant!« Damit ist Carl Joseph gemeint, er muß antworten. Er
nimmt die kümmerlichen Reste seiner Kräfte zusammen. Aus der
rauschenden Leere in seinem Kopf schlängelt sich ein dünner, nichtswürdiger
Satz. Der Leutnant schlägt die Absätze zusammen (aus militärischem Instinkt
und auch, um irgendwie Geräusch zu hören), und das Klirren seiner Sporen
beruhigt ihn. Und er sagt ganz leise: »Herr Regimentsarzt, zwischen Ihrer
Frau und mir ist gar nichts!«
Nichts. Stille. Die Sterne funkeln, und der Mond schimmert. Doktor
Demant sagt nichts. Aus toten Brillen schaut er Carl Joseph an. Der Leutnant
wiederholt ganz leise: »Gar nichts, Herr Regimentsarzt!«
Er ist verrückt geworden, denkt der Leutnant. Und: Es ist zerbrochen! Es
ist etwas zerbrochen. Es ist, als hätte er ein dürres, splitterndes Zerbrechen
vernommen. Gebrochene Treue! fällt ihm ein, er hat die Wendung einmal
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik