Seite - 95 - in Radetzkymarsch
Bild der Seite - 95 -
Text der Seite - 95 -
auch ein Enkel!«
Er dachte in diesem Augenblick nicht an die Ängste des Leutnants. Es
schien ihm sehr wohl möglich, jetzt noch allem Bedrohlichen zu entgehn.
Verschwinden! dachte er. Ehrlos werden, degradiert, drei Jahre als Gemeiner
dienen oder ins Ausland fliehen! Nicht erschossen werden! Schon war ihm
der Leutnant Trotta, Enkel des Helden von Solferino, ein Mensch aus einer
anderen Welt, vollkommen fremd. Und er sagte laut und mit höhnender Lust:
»Diese Dummheit! Diese Ehre, die in der blöden Troddel da am Säbel
hängt. Man kann eine Frau nicht nach Haus begleiten! Siehst du, wie dumm
das ist? Hast du nicht jenen dort« – er zeigte auf das Bild des Kaisers – »aus
dem Bordell gerettet? Blödsinn!« schrie er plötzlich, »infamer Blödsinn!«
Es klopfte, der Wirt kam und brachte zwei gefüllte Gläschen. Der
Regimentsarzt trank. »Trink!« sagte er. Carl Joseph trank. Er begriff nicht
ganz genau, was der Doktor sagte, aber er ahnte, daß Demant nicht mehr
bereit war zu sterben. Die Uhr tickte ihre blechernen Sekunden. Die Zeit hielt
nicht. Sieben Uhr zwanzig, sieben Uhr zwanzig! Ein Wunder mußte sich
ereignen, wenn Demant nicht sterben sollte. Es ereigneten sich keine Wunder,
soviel wußte der Leutnant schon! Er selbst – phantastischer Gedanke – wird
morgen, sieben Uhr zwanzig, erscheinen und sagen: Meine Herren, der
Demant ist verrückt geworden, in dieser Nacht, ich schlage mich für ihn!
Kinderei, lächerlich, unmöglich! Er sah wieder ratlos auf den Doktor. Die Zeit
hielt nicht, die Uhr steppte unaufhörlich ihre Sekunden weiter. Bald ist es
vier: noch drei Stunden!
»Also!« sagte schließlich der Regimentsarzt. Es klang, als hätte er schon
einen Entschluß gefaßt, als wüßte er genau, was zu tun sei. Aber er wußte
nichts Genaues! Seine Gedanken zogen blind und ohne Zusammenhang
verworrene Bahnen durch blinde Nebel. Er wußte nichts! Ein nichtswürdiges,
infames, dummes, eisernes, gewaltiges Gesetz fesselte ihn, schickte ihn
gefesselt in einen dummen Tod. Er vernahm aus der Gaststube die späten
Geräusche. Offenbar saß dort niemand mehr. Der Wirt steckte die klirrenden
Biergläser ins plätschernde Wasser, schob die Stühle zusammen, rückte an
den Tischen, klirrte mit dem Schlüsselbund. Man mußte gehn. Von der Straße,
vom Winter, vom nächtlichen Himmel, von seinen Sternen, vom Schnee
vielleicht kamen Rat und Trost. Er ging zum Wirt, zahlte, kam im Mantel
zurück, schwarz, in einem schwarzen, breiten Hut stand er vermummt und
noch einmal verwandelt vor dem Leutnant. Er erschien Carl Joseph gerüstet,
stärker gerüstet als jemals in Uniform mit Säbel und Mütze.
Sie gingen durch den Hof, durch den Flur zurück, in die Nacht. Der Doktor
sah zum Himmel hinauf, von den ruhigen Sternen kam kein Rat, kälter waren
sie als der Schnee ringsum. Finster waren die Häuser, taubstumm die Gassen,
95
zurück zum
Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik