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»Lieber Sohn!
Ich danke Dir für Deine genauen Mitteilungen und für Dein Vertrauen. Das
Schicksal, das Deine Kameraden getroffen hat, berührt mich schmerzlich. Sie
sind gestorben, wie es sich für ehrenwerte Männer geziemt.
Zu meiner Zeit waren Duelle noch häufiger und die Ehre weit kostbarer als
das Leben. Zu meiner Zeit waren auch die Offiziere, wie mir scheinen will,
aus einem härteren Holz. Du bist Offizier, mein Sohn, und der Enkel des
Helden von Solferino. Du wirst es zu tragen wissen, daß Du unfreiwillig und
schuldlos an dem tragischen Ereignis beteiligt bist. Gewiß tut es Dir auch
leid, das Regiment zu verlassen, aber in jedem Regiment, im ganzen Bereich
der Armee, dienst Du unserem Kaiser.
Dein Vater
Franz von Trotta
Nachschrift: Deinen zweiwöchigen Urlaub, der Dir bei der Transferierung
zusteht, kannst Du, nach Deinem Belieben, in meinem Haus verbringen oder,
noch besser, in dem neuen Garnisonsort, damit Du Dich mit den dortigen
Verhältnissen leichter vertraut machst.
Der Obige«
Diesen Brief las der Leutnant Trotta nicht ohne Beschämung. Der Vater
hatte alles erraten. Die Gestalt des Bezirkshauptmanns wuchs in den Augen
des Leutnants zu einer fast furchtbaren Größe. Ja, sie erreichte bald den
Großvater. Und hatte der Leutnant schon vorher Angst gehabt, dem Alten
gegenüberzutreten, so war es ihm jetzt ganz unmöglich, den Urlaub zu Hause
zu verleben. Später, später, wenn ich den ordentlichen Urlaub habe, sagte sich
der Leutnant, der aus einem ganz andern Holz geschnitzt war als die
Leutnants aus der Jugendzeit des Bezirkshauptmanns.
»Gewiß tut es Dir auch leid, das Regiment zu verlassen«, schrieb der Vater.
Hatte er es geschrieben, weil er das Gegenteil ahnte? Was hätte Carl Joseph
nicht gern verlassen mögen? Dieses Fenster vielleicht, den Blick in die
Mannschaftsstuben gegenüber, die Mannschaften selbst, wenn sie auf den
Betten hockten, den wehmütigen Klang ihrer Mundharmonikas und die
Gesänge, die fernen Lieder, die wie ein unverstandenes Echo ähnlicher Lieder
klangen, die von den Bauern in Sipolje gesungen wurden! Vielleicht müßte
man nach Sipolje gehn, dachte der Leutnant. Er trat vor die Generalstabskarte,
den einzigen Wandschmuck in seinem Zimmer. Mitten im Schlaf hätte er
Sipolje finden können. Im äußersten Süden der Monarchie lag es, das stille,
gute Dorf. Mitten in einem leicht schraffierten, hellen Braun steckten die
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik