Seite - 130 - in Radetzkymarsch
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die heiteren, maienhaften Geräusche des Hofes ins kleine Zimmer. Man hörte
das Säuseln der Bäume, den sachten Atem des Windchens, das übermütige
Summen der funkelnden spanischen Fliegen und das Trillern der Lerchen aus
blauen, unendlichen Höhen. Der Kanarienvogel schwang sich hinaus, aber
nur, um zu zeigen, daß er noch fliegen könne. Denn er kam nach ein paar
Augenblicken wieder, setzte sich aufs Fensterbrett und begann, mit
verdoppelter Kraft zu schmettern. Fröhlich war die Welt, drinnen und
draußen. Und Jacques beugte sich aus dem Bett, lauschte regungslos, die
Schweißperlchen glitzerten auf seiner harten Stirn, und sein schmaler Mund
öffnete sich langsam. Zuerst lächelte er nur stumm. Dann kniff er die Augen
zu, seine hageren, geröteten Wangen falteten sich an den Backenknochen,
jetzt sah er aus wie ein alter Schelm, und ein dünnes Kichern kam aus seiner
Kehle. Er lachte. Er lachte ohne Aufhören; die Kissen zitterten leise, und das
Bettgestell stöhnte sogar ein wenig. Auch der Bezirkshauptmann
schmunzelte. Ja, der Tod kam zum alten Jacques wie ein munteres Mädchen
im Frühling, und Jacques öffnete den alten Mund und zeigte ihm die
spärlichen, gelben Zähne. Er hob die Hand, wies auf das Fenster und
schüttelte, immerfort kichernd, den Kopf. »Schöner Tag heute!« bemerkte der
Bezirkshauptmann. »Da kommt er ja, da kommt er ja!« sagte Jacques. »Auf
dem Schimmel, ganz weiß angezogen, warum reitet er denn so langsam?
Schau, schau, wie langsam der reitet! Grüß Gott! Grüß Gott! Wollen S’ nicht
näher kommen? Kommen S’ nur! Kommen S’ nur! Schön ist’s heut, was?« Er
zog die Hand zurück, richtete den Blick auf den Bezirkshauptmann und sagte:
»Wie langsam der reitet! Das kommt, weil er von drüben ist! Er ist schon
lange tot und gar nicht mehr gewohnt, hier auf den Steinen herumzureiten! Ja,
früher! Weißt noch, wie der ausgeschaut hat? Ich möcht’ das Bild sehn. Ob
der sich wirklich verändert hat? Bring’s her, das Bild, sei so gut, bring’s her!
Bitte, Herr Baron!«
Der Bezirkshauptmann begriff sofort, daß es sich um das Porträt des
Helden von Solferino handelte. Er ging gehorsam hinaus. Er nahm auf der
Treppe sogar zwei Stufen auf einmal, trat schnell ins Herrenzimmer, stieg auf
einen Stuhl und holte das Bild des Helden von Solferino vom Haken. Es war
ein wenig verstaubt; er blies darauf und fuhr mit dem Taschentuch darüber,
mit dem er früher die Stirn des Sterbenden getrocknet hatte. Auch jetzt
schmunzelte der Bezirkshauptmann unaufhörlich. Er war fröhlich. Er war
schon lange nicht mehr fröhlich gewesen. Er ging eilends, das große Bildnis
unter dem Arm, durch den Hof. Er trat an Jacques’ Bett. Jacques schaute
lange auf das Porträt, streckte den Zeigefinger aus, fuhr im Antlitz des Helden
von Solferino herum und sagte endlich: »Halt’s in die Sonne!« Der
Bezirkshauptmann gehorchte. Er hielt das Porträt in den besonnten Streifen
am Bettende, Jacques richtete sich auf und sagte: »Ja, genau so hat er
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik