Seite - 171 - in Radetzkymarsch
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fest, daß er soeben die Liebe kennengelernt habe, das heißt: die
Verwirklichung seiner Vorstellungen von der Liebe. In Wirklichkeit war er
nur dankbar, ein gesättigtes Kind. »In Wien bleiben wir zusammen, nicht?« –
Liebes Kind, liebes Kind! dachte sie fortwährend. Sie sah ihn an, von
mütterlichem Stolz erfüllt, als hätte sie ein Verdienst an den Tugenden, die er
nicht besaß und die sie ihm zuschrieb wie eine Mutter.
Eine unendliche Reihe kleiner Feste bereitete sie vor. Es fügte sich gut, daß
sie zu Fronleichnam eintrafen. Sie wird zwei Plätze auf der Tribüne
beschaffen. Sie wird mit ihm den bunten Zug genießen, den sie liebte, wie ihn
damals alle österreichischen Frauen jedes Standes liebten.
Sie beschaffte Plätze auf der Tribüne. Der fröhliche und feierliche Pomp
der Parade beschenkte sie selbst mit einem warmen und verjüngenden
Widerschein. Seit ihrer Jugend kannte sie, wahrscheinlich nicht weniger
genau als der Obersthofmeister, alle Phasen, Teile und Gesetze des
Fronleichnamzuges, ähnlich wie die alten Besucher der angestammten
Opernlogen alle Szenen ihrer geliebten Stücke. Ihre Lust zu schauen
verminderte sich nicht etwa, sondern nährte sich im Gegenteil von dieser
vertrauten Kennerschaft. In Carl Joseph standen die alten kindischen und
heldischen Träume auf, die ihn zu Hause, in den Ferien auf dem väterlichen
Balkon, bei den Klängen des Radetzkymarsches erfüllt und beglückt hatten.
Die ganze majestätische Macht des alten Reiches zog vor seinen Augen
dahin. Der Leutnant dachte an seinen Großvater, den Helden von Solferino,
und an den unerschütterlichen Patriotismus seines Vaters, der einem kleinen,
aber starken Fels vergleichbar war, mitten unter den ragenden Bergen der
habsburgischen Macht. Er dachte an seine eigene heilige Aufgabe, für den
Kaiser zu sterben, jeden Augenblick zu Wasser und zu Lande und auch in der
Luft, mit einem Worte, an jedem Orte. Die Wendungen des Gelübdes, das er
ein paarmal mechanisch abgelegt hatte, wurden lebendig. Sieerhoben sich, ein
Wort nach dem andern erhob sich, jedes eine Fahne. Das porzellanblaue Auge
des Allerhöchsten Kriegsherrn, erkaltet auf so vielen Bildern an so vielen
Wänden des Reiches, füllte sich mit neuer, väterlicher Huld und blickte wie
ein ganzer blauer Himmel auf den Enkel des Helden von Solferino. Es
leuchteten die lichtblauen Hosen der Infanterie. Wie der leibhaftige Ernst der
ballistischen Wissenschaft zogen die kaffeebraunen Artilleristen vorbei. Die
blutroten Feze auf den Köpfen der hellblauen Bosniaken brannten in der
Sonne wie kleine Freudenfeuerchen, angezündet vom Islam zu Ehren Seiner
Apostolischen Majestät. In den schwarzen, lackierten Karossen saßen die
goldgezierten Ritter des Vlieses und die schwarzen, rotbäckigen
Gemeinderäte. Nach ihnen wehten wie majestätische Stürme, die ihre
Leidenschaft in der Nähe des Kaisers zügeln, die Roßhaarbüsche der
Leibgarde-Infanterie einher. Schließlich erhob sich, vom schmetternden
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik