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hatte und man rings um ihn zitterte und sein Leibarzt vor ihm log, daß er
keines habe, sagte der Kaiser: »Dann ist ja alles gut!«, obwohl er von seinem
Fieber wußte. Denn ein Kaiser straft nicht einen Mediziner Lügen. Außerdem
wußte er, daß die Stunde seines Todes noch nicht gekommen war. Er kannte
auch die vielen Nächte, in denen ihn das Fieber plagte, ohne daß seine Ärzte
etwas davon wußten. Denn er war manchmal krank, und niemand sah es. Und
ein anderes Mal war er gesund, und sie nannten ihn krank, und er tat, als ob er
krank wäre. Wo man ihn für einen Gütigen hielt, war er gleichgültig. Und wo
man sagte, er sei kalt: dort tat ihm das Herz weh. Er hatte lange genug gelebt,
um zu wissen, daß es töricht ist, die Wahrheit zu sagen. Er gönnte den Leuten
den Irrtum, und er glaubte weniger als die Witzbolde, die in seinem weiten
Reich Anekdoten über ihn erzählten, an den Bestand seiner Welt. Aber es
ziemt einem Kaiser nicht, sich mit Witzbolden und Weltklugen zu messen.
Also schwieg der Kaiser.
Obwohl er sich erholt hatte, der Leibarzt mit seinem Puls, seinen Lungen,
seiner Atmung zufrieden war, hatte er seit gestern Schnupfen. Es fiel ihm
nicht ein, diesen Schnupfen merken zu lassen. Man konnte ihn hindern, die
Herbstmanöver an der östlichen Grenze zu besuchen, und er wollte noch
einmal, und einen Tag wenigstens, Manöver sehen. Er hatte sich durch den
Akt dieses Lebensretters, dessen Name ihm schon wieder entfallen war, an
Solferino erinnert. Er hatte Kriege nicht gern (denn er wußte, daß man sie
verliert), aber das Militär liebte er, das Kriegsspiel, die Uniform, die
Gewehrübungen, die Parade, die Defilierung und das Kompanieexerzieren. Es
kränkte ihn zuweilen, daß die Offiziere höhere Kappen trugen als er selbst,
Bügelfalten und Lackschuhe und viel zu hohe Kragen an der Bluse. Viele
waren sogar glatt rasiert. Unlängst erst hatte er einen glattrasierten
Landwehroffizier zufällig auf der Straße gesehen, und sein Herz war den
ganzen Tag bekümmert gewesen. Wenn er aber selbst zu den Leuten hinkam,
wußten sie wieder, was Vorschrift war und was Firlefanz. Den und jenen
konnte man derber anfahren. Denn beim Militär schickte sich auch für den
Kaiser alles, beim Militär war sogar der Kaiser ein Soldat. Ach! Er liebte das
Blasen der Trompeten, obwohl er immer so tat, als interessierten ihn die
Aufmarschpläne. Und obwohl er wußte, daß Gott selbst ihn auf seinen Thron
gesetzt hatte, kränkte es ihn dennoch in mancher schwachen Stunde, daß er
nicht Frontoffizier war, und er hatte was auf dem Herzen gegen die
Stabsoffiziere. Er erinnerte sich, daß er nach der Schlacht bei Solferino die
disziplinlosen Truppen auf dem Rückweg wie ein Feldwebel angebrüllt und
wieder geordnet hatte. Er war überzeugt – aber wem durfte er es sagen! –, daß
zehn gute Feldwebel mehr leisteten als zwanzig Generalstäbler. Er sehnte sich
nach Manövern!
Er beschloß also, seinen Schnupfen nicht merken zu lassen und sein
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik