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rückten ein bißchen aneinander, und der Kaiser pfiff eine Melodie, eine
bekannte, wenn auch ein wenig entstellte Melodie. Es klang wie eine winzige
Hirtenflöte. Und der Kaiser sagte: »Das pfeift der Hojos immer, das Lied. Ich
wüßt’ gern, was es ist!« Aber beide, der Diener und der Leibbursch, wußten
es nicht; und eine Weile später, beim Waschen, hatte der Kaiser das Lied
schon vergessen.
Es war ein schwerer Tag. Franz Joseph sah den Zettel an, auf dem der
Tagesplan aufgezeichnet war, Stunde für Stunde. Es gab nur eine griechische
Kirche im Ort. Ein römisch-katholischer Geistlicher wird zuerst die Messe
lesen, dann der griechische. Mehr als alles andere strengten ihn die
kirchlichen Zeremonien an. Er hatte das Gefühl, daß er sich vor Gott
zusammennehmen müsse wie vor einem Vorgesetzten. Und er war schon alt!
Er hätte mir so manches erlassen können! dachte der Kaiser. Aber Gott ist
noch älter als ich, und seine Ratschlüsse kommen mir vielleicht genauso
unerforschlich vor wie die meinen den Soldaten der Armee! Und wo sollte
man da hinkommen, wenn jeder Untergeordnete seinen Vorgesetzten
kritisieren wollte! Durch das hohe, gewölbte Fenster sah der Kaiser die Sonne
Gottes emporsteigen. Er bekreuzigte sich und beugte das Knie. Seit
undenklichen Zeiten hatte er jeden Morgen die Sonne aufgehen gesehen. Sein
ganzes Leben lang war er beinahe immer noch vor ihr aufgestanden, wie ein
Soldat früher aufsteht als sein Vorgesetzter. Er kannte alle Sonnenaufgänge,
die feurigen und fröhlichen des Sommers und die umnebelten späten und
trüben des Winters. Und er erinnerte sich zwar nicht mehr der Daten, nicht
mehr an die Namen der Tage, der Monate und der Jahre, in denen Unheil oder
Glück über ihn hereingebrochen waren; wohl aber an die Morgen, die jeden
wichtigen Tag in seinem Leben eingeleitet hatten. Und er wußte, daß dieser
Morgen trübe und jener heiter gewesen war. Und jeden Morgen hatte er das
Kreuz geschlagen und das Knie gebeugt, wie manche Bäume jeden Morgen
ihre Blätter der Sonne öffnen, ob es Tage sind, an denen Gewitter kommen
oder die fällende Axt oder der tödliche Reif im Frühling, oder aber Tage
voller Frieden und Wärme und Leben.
Der Kaiser erhob sich. Sein Friseur kam. Regelmäßig jeden Morgen hielt er
das Kinn hin, der Backenbart wurde gestutzt und säuberlich gebürstet. An den
Ohrmuscheln und vor den Nasenlöchern kitzelte das kühle Metall der Schere.
Manchmal mußte der Kaiser niesen. Er saß heute vor einem kleinen, ovalen
Spiegel und verfolgte mit heiterer Spannung die Bewegungen der mageren
Hände des Friseurs. Nach jedem Härchen, das fiel, nach jedem Strich des
Rasiermessers und jedem Zug des Kammes oder der Bürste sprang der Friseur
zurück und hauchte: »Majestät!«, mit zitternden Lippen. Der Kaiser hörte
dieses geflüsterte Wort nicht. Er sah nur die Lippen des Friseurs in ständiger
Bewegung, wagte nicht zu fragen und dachte schließlich, der Mann sei ein
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik