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dem Gedanken, die Armee zu verlassen.« Als der Bezirkshauptmann diesen
Satz las, unterbrach er sich sofort und warf einen Blick auf die Unterschrift,
um sich zu überzeugen, daß kein anderer als Carl Joseph den Brief
geschrieben hatte. Dann legte Herr von Trotta den Zwicker, den er zum Lesen
benutzte, weg und den Brief ebenfalls. Er ruhte aus. Er saß in seiner Kanzlei.
Die dienstlichen Briefe waren noch nicht aufgeschnitten. Vielleicht enthielten
sie heute Wichtiges, sofort zu erledigende Angelegenheiten. Alle Dinge aber,
die den Dienst betrafen, schienen durch die Erwägungen Carl Josephs bereits
in der ungünstigsten Weise erledigt. Es geschah dem Bezirkshauptmann zum
erstenmal, daß er seine dienstlichen Obliegenheiten von persönlichen
Erlebnissen abhängig machte. Und ein so bescheidener, ja demütiger Diener
des Staates er auch war: Die Erwägung seines Sohnes, die Armee zu
verlassen, wirkte auf Herrn von Trotta etwa so, wie wenn er eine Mitteilung
von der gesamten kaiser- und königlichen Armee erhalten hätte, daß sie
gesonnen sei, sich aufzulösen. Alles, alles in der Welt schien seinen Sinn
verloren zu haben. Der Untergang der Welt schien angebrochen! Und es war
dem Bezirkshauptmann, als er sich dennoch entschloß, die dienstliche Post zu
lesen, als erfüllte er eine vergebliche und namenlose und heroische Pflicht,
wie etwa der Telephonist eines sinkenden Schiffes.
Erst eine gute Stunde später las er den Brief seines Sohnes weiter. Carl
Joseph bat ihn um die Zustimmung. Und der Bezirkshauptmann erwiderte
folgendes:
»Mein lieber Sohn!
Dein Brief hat mich erschüttert. Ich werde Dir nach einiger Zeit meinen
endgültigen Entschluß mitteilen.
Dein Vater«
Auf diesen Brief Herrn von Trottas antwortete Carl Joseph nicht mehr. Ja,
er unterbrach die regelmäßige Reihe seiner gewohnten Berichte, und der
Bezirkshauptmann hörte also seit einer geraumen Zeit nichts von seinem
Sohn. Er wartete jeden Morgen, der Alte, und er wußte gleichzeitig, daß er
umsonst wartete. Und es war, als fehlte nicht jeden Morgen der erwartete
Brief, sondern als käme jeden Morgen die erwartete und gefürchtete Stille.
Der Sohn schwieg. Aber der Vater hörte ihn schweigen. Und es war, als
kündigte der Sohn jeden Tag aufs neue dem Alten den Gehorsam. Und je
länger Carl Josephs Berichte ausblieben, desto schwieriger war es dem
Bezirkshauptmann, den angekündigten Brief zu schreiben. Und war es ihm
noch zuerst ganz selbstverständlich erschienen, dem Jungen den Austritt aus
der Armee einfach zu verbieten, so begann jetzt Herr von Trotta allmählich zu
glauben, daß er kein Recht mehr habe, etwas zu verbieten. Er war recht
verzagt, der Herr Bezirkshauptmann. Immer silberner wurde sein Backenbart.
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik