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Deine Entschlüsse mitzuteilen.
Dein Vater«
Herr von Trotta blieb lange Zeit vor seinem Brief sitzen. Er las ein paarmal
die wenigen Sätze, die er geschrieben hatte. Sie klangen ihm wie sein
Testament. Es wäre ihm niemals früher eingefallen, seinen väterlichen
Charakter für wichtiger zu halten als seinen amtlichen. Da er nun aber mit
diesem Brief die Befehlsgewalt über seinen Sohn niederlegte, schien es ihm,
daß sein ganzes Leben wenig Sinn mehr hätte und daß er zugleich auch
aufhören müßte, Beamter zu sein. Es war nichts Ehrloses, was er unternahm.
Aber es kam ihm vor, daß er sich selbst einen Schimpf zufügte. Er verließ die
Kanzlei, den Brief in der Hand, er ging ins Herrenzimmer. Hier entzündete er
alle vorhandenen Lichter, die Stehlampe in der Ecke und die Hängelampe am
Suffit und stellte sich vor dem Porträt des Helden von Solferino auf. Das
Angesicht seines Vaters konnte er nicht deutlich sehen. Das Gemälde zerfiel
in hundert kleine, ölige Lichtflecke und Tupfen, der Mund war ein blaßroter
Strich und die Augen zwei schwarze Kohlensplitter. Der Bezirkshauptmann
stieg auf einen Sessel (seit seiner Knabenzeit war er nicht auf einem Sessel
gestanden), reckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, hielt den Zwicker
vor die Augen und konnte gerade noch die Unterschrift Mosers in der Ecke
rechts auf dem Porträt lesen. Er stieg ein wenig mühsam wieder hinunter,
unterdrückte einen Seufzer, wich, rückwärtsschreitend, bis zur Wand
gegenüber, stieß sich heftig und schmerzlich an der Kante des Tisches und
begann, das Bild aus der Ferne zu studieren. Er löschte die Deckenlampe aus.
Und im tiefen Dämmer glaubte er, das Angesicht seines Vaters lebendig
schimmern zu sehen. Bald näherte es sich ihm, bald entfernte es sich, schien
hinter die Wand zu entweichen und wie aus einer unermeßlichen Weite durch
ein offenes Fenster ins Zimmer zu schauen. Herr von Trotta verspürte eine
große Müdigkeit. Er setzte sich in den Sessel, rückte ihn so zurecht, daß er
gerade dem Bildnis gegenübersaß, und öffnete seine Weste. Er hörte die
immer spärlicheren Tropfen des nachlassenden Regens in harten,
unregelmäßigen Schlägen an den Fensterscheiben und von Zeit zu Zeit den
Wind in den alten Kastanien gegenüber rauschen. Er schloß die Augen. Und
er schlief ein, den Brief im Umschlag in der Hand und die Hand reglos über
der Lehne des Sessels.
Als er erwachte, strömte der volle Morgen schon durch die drei großen,
gewölbten Fenster. Der Bezirkshauptmann erblickte zuerst das Porträt des
Helden von Solferino, dann fühlte er den Brief in seiner Hand, sah die
Adresse, las den Namen seines Sohnes und erhob sich seufzend. Seine
Hemdbrust war zerdrückt, seine breite, dunkelrote Krawatte mit den weißen
Tupfen war nach links verschoben, und auf der gestreiften Hose bemerkte
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik