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Radetzkymarsch
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der einzigen, die er besaß – Frau von Taußig hatte sie ihm geschenkt – und die er trotz unzähliger Bemühungen nicht zu knüpfen verstand. Der simpelste Kriminalbeamte hätte im Leutnant Trotta auf den ersten Blick den Offizier in Zivil erkannt. Frau von Taußig stand am Nordbahnhof auf dem Perron. Vor zwanzig Jahren – sie dachte, es sei vor fünfzehn gewesen, denn sie hatte so lange ihr Alter verleugnet, daß sie selbst überzeugt war, ihre Jahre hielten im Lauf inne und gingen nicht zu Ende –, vor zwanzig Jahren hatte sie ebenfalls am Nordbahnhof auf einen Leutnant gewartet, der allerdings ein Kavallerist gewesen war. Sie stieg auf den Perron wie in ein Verjüngungsbad. Sie tauchte unter im beizenden Dunst der Steinkohle, in den Pfiffen und Dämpfen der rangierenden Lokomotiven, im dichten Geklingel der Signale. Sie trug einen kurzen Reiseschleier. Sie hatte die Vorstellung, daß er vor fünfzehn Jahren Mode gewesen war. Dieweil waren es bereits fünfundzwanzig Jahre her, und nicht einmal zwanzig! Sie liebte es, auf dem Bahnsteig zu warten. Sie liebte den Augenblick, in dem der Zug einrollte und sie das lächerliche, dunkelgrüne Hütchen Trottas am Kupeefenster erblickte und sein geliebtes, ratloses, junges Angesicht. Denn sie machte Carl Joseph jünger, ebenso wie sich selbst, dümmer und ratloser, ebenso wie sich selbst. In dem Augenblick, in dem der Leutnant das unterste Trittbrett verließ, öffneten sich ihre Arme wie vor zwanzig beziehungsweise fünfzehn Jahren. Und aus dem Gesicht, das sie heute trug, tauchte jenes frühe rosige und faltenlose auf, das sie vor zwanzig beziehungsweise vor fünfzehn Jahren getragen hatte, ein Mädchengesicht, süß und etwas erhitzt. Um ihren Hals, in dessen Haut sich heute schon zwei parallele Rillen gruben, hatte sie jene kindliche, dünne Goldkette geschlungen, die vor zwanzig beziehungsweise fünfzehn Jahren ihr einziger Schmuck gewesen war. Und wie vor zwanzig beziehungsweise fünfzehn Jahren fuhr sie mit dem Leutnant in eines jener kleinen Hotels, in denen die verborgene Liebe blühte, in bezahlten, armseligen, quietschenden und köstlichen Bettparadiesen. Die Spaziergänge begannen. Die Liebesviertelstunden im jungen Grün des Wienerwalds, die kleinen, plötzlichen Gewitter des Bluts. Die Abende im rötlichen Dämmer der Opernlogen, hinter vorgezogenen Vorhängen. Die Liebkosungen, wohlbekannte und dennoch überraschende Liebkosungen, auf die das erfahrene und dennoch ahnungslose Fleisch wartete. Das Ohr kannte die oft gehörte Musik, aber die Augen kannten nur Bruchteile der Szenen. Denn Frau von Taußig hatte immer hinter vorgezogenem Vorhang oder mit geschlossenen Augen in der Oper gesessen. Die Zärtlichkeiten, von der Musik geboren und den Händen des Mannes gleichsam vom Orchester anvertraut, kamen kühl und heiß zugleich zur Haut, längst vertraute und ewig junge Schwestern, Geschenke, die man oft schon empfangen, aber wieder vergessen 221
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Radetzkymarsch
Titel
Radetzkymarsch
Autor
Joseph Roth
Datum
1932
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
294
Schlagwörter
Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
Kategorien
Weiteres Belletristik

Inhaltsverzeichnis

  1. Teil 1 3
    1. Kapitel 1 5
    2. Kapitel 2 20
    3. Kapitel 3 31
    4. Kapitel 4 45
    5. Kapitel 5 53
    6. Kapitel 6 69
    7. Kapitel 7 81
    8. Kapitel 8 100
  2. Teil 2 111
    1. Kapitel 1 112
    2. Kapitel 2 122
    3. Kapitel 3 136
    4. Kapitel 4 153
    5. Kapitel 5 167
    6. Kapitel 6 178
    7. Kapitel 7 191
  3. Teil 3 202
    1. Kapitel 1 203
    2. Kapitel 2 219
    3. Kapitel 3 236
    4. Kapitel 4 251
    5. Kapitel 5 272
    6. Kapitel 6 281
  4. Epilog 288
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