Seite - 223 - in Radetzkymarsch
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die Nacht nicht zur Kenntnis zu nehmen. Angekleidet und mit offenen Augen
lag er auf dem Bett. Alle vertrauten Stimmen des Frühlings wehten durch das
offene Fenster herein: der tiefe Lärm der Frösche und über ihm sein sanfter
und heller Bruder, der Gesang der Grillen, dazwischen der ferne Ruf des
nächtlichen Hähers und die Lieder der Burschen und Mägde aus dem
Grenzdorf. Das Telegramm kam schließlich. Es teilte dem Leutnant mit, daß
er diesmal nicht kommen könne. Frau von Taußig wäre zu ihrem Mann
gefahren. Sie wollte bald zurück, wüßte nur nicht, wann. Mit »tausend
Küssen« schloß der Text. Ihre Zahl beleidigte den Leutnant. Sie hätte nicht
sparen dürfen, dachte er. Hunderttausend hätte sie auch telegraphieren
können! Es fiel ihm ein, daß er sechstausend Kronen schuldig war. Mit ihnen
verglichen, waren tausend Küsse eine kümmerliche Zahl. Er stand auf, um die
offene Tür des Kleiderschranks zu schließen. Da hing, sauber und gerade,
eine gebügelte Leiche, der freie, dunkelgraue, zivilistische Trotta. Über ihm
schloß sich der Kasten. Ein Sarg: begraben! begraben!
Der Leutnant öffnete die Tür zum Korridor. Immer saß Onufrij dort,
schweigsam oder leise summend oder die Mundharmonika vor den Lippen
und die Hände gewölbt über dem Instrument, um die Töne zu dämpfen.
Manchmal saß Onufrij auf einem Stuhl. Manchmal hockte er auf der
Schwelle. Vor einem Jahr schon hätte er das Militär verlassen sollen. Er blieb
freiwillig. Sein Dorf Burdlaki lag in der Nähe. Immer, wenn der Leutnant
wegfuhr, ging er in sein Dorf. Er nahm einen Knüppel aus Weichselholz mit,
ein weißes, blaugeblümtes Tuch, legte rätselhafte Gegenstände in dieses
Tuch, hängte das Bündel an das Knüppelende, schulterte den Stock, begleitete
den Leutnant zur Bahn, wartete bis zum Abgang des Zuges, stand salutierend
und erstarrt am Bahnsteig, auch wenn Trotta nicht aus dem Kupeefenster
blickte, und begann dann seine Wanderung nach Burdlaki, zwischen den
Sümpfen, auf dem schmalen Pfad, an dem die Weiden wuchsen, auf dem
einzigen sicheren Weg, auf dem keine Gefahr war zu versinken. Onufrij kam
rechtzeitig wieder, um Trotta zu erwarten. Und er setzte sich vor die Tür
Trottas, schweigsam, summend oder auf der Mundharmonika spielend unter
den gewölbten Händen.
Der Leutnant öffnete die Tür zum Korridor. »Du kannst diesesmal nicht
nach Burdlaki! Ich fahre nicht weg!« »Jawohl, Herr Leutnant!« Onufrij stand,
erstarrt und salutierend, im weißen Korridor, ein dunkelblauer, gerader Strich.
»Du bleibst hier!« wiederholte Trotta; er glaubte, Onufrij habe ihn nicht
verstanden.
Aber Onufrij sagte nur noch einmal: »Jawohl!« Und wie, um zu beweisen,
daß er noch mehr begriffe, als man ihm sagte, ging er hinunter und kam mit
einer Flasche Neunziggrädigem zurück.
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik