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Sache des Vaterlands. Er hatte seit seiner Abreise aus W. kaum etwas
gegessen. Er sah hagerer aus als gewöhnlich, und er erinnerte seinen Freund
Hasselbrunner an einen jener exotischen Vögel im Schönbrunner Tierpark,
die einen Versuch der Natur darstellten, die Physiognomie der Habsburger
innerhalb der Fauna zu wiederholen. Ja, der Bezirkshauptmann erinnerte alle
Menschen, die den Kaiser gesehen hatten, an Franz Joseph selbst. Sie waren
keineswegs an diesen Grad der Entschiedenheit gewöhnt, die der
Bezirkshauptmann demonstrierte, die Herren von Wien! Und der alte Herr
von Trotta erschien ihnen, die mit den federleichten, in den Kaffeehäusern der
Residenzstadt formulierten Witzen noch weit schwierigere Angelegenheiten
des Reiches abzutun gewohnt waren, als eine Persönlichkeit, nicht einer
geographisch, sondern einer geschichtlich entfernten Provinz entstiegen,
Gespenst vaterländischer Historie und verkörperte Mahnung des patriotischen
Gewissens. Die ewige Bereitschaft zum Witz, mit dem sie alle Anzeichen
ihres eigenen Untergangs zu begrüßen beflissen waren, erstarb für die Dauer
einer Stunde, und der Name »Solferino« weckte in ihnen Schauder und
Ehrfurcht, der Name der Schlacht, die zum erstenmal den Untergang der
kaiser- und königlichen Monarchie angekündigt hatte. Beim Anblick und bei
den Reden, die dieser merkwürdige Bezirkshauptmann ihnen bot,
erschauerten sie selbst. Sie spürten vielleicht schon den Atem des Todes, der
ein paar Monate später sie alle ergreifen sollte, am Nacken ergreifen! Und sie
verspürten im Nacken den eisigen Hauch des Todes.
Drei Tage im ganzen hatte Herr von Trotta noch Zeit. Und es gelang ihm,
innerhalb einer einzigen Nacht, in der er nicht schlief, nicht aß und nicht
trank, das eiserne und das goldene Gesetz des Zeremoniells zu durchbrechen.
So wie der Name des Helden von Solferino in den Geschichtsbüchern oder in
den Lesebüchern für österreichische Volks- und Bürgerschulen nicht mehr
gefunden werden konnte, ebenso fehlt der Name des Sohnes des Helden von
Solferino in den Protokollen Montenuovos. Außer Montenuovo selbst und
dem jüngst verstorbenen Diener Franz Josephs weiß kein Mensch in der Welt
mehr, daß der Bezirkshauptmann Franz Freiherr von Trotta eines Morgens
vom Kaiser empfangen worden ist, und zwar knapp vor der Abfahrt nach
Ischl.
Es war ein wunderbarer Morgen. Der Bezirkshauptmann hatte die ganze
Nacht hindurch die Paradeuniform probiert. Er ließ das Fenster offen. Es war
eine helle Sommernacht. Von Zeit zu Zeit trat er ans Fenster. Die Geräusche
der schlummernden Stadt hörte er dann und den Ruf eines Hahns aus
entfernten Gehöften. Er roch den Atem des Sommers; er sah die Sterne am
Ausschnitt des nächtlichen Himmels, er hörte den gleichmäßigen Schritt des
patrouillierenden Polizisten. Er erwartete den Morgen. Er trat, zum
zehntenmal, vor den Spiegel, richtete die Flügel der weißen Krawatte über
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik