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»Majestät! Es war mein Vater, der Held von Solferino!« bemerkte der
Bezirkshauptmann, indem er sich noch einmal verneigte.
»Wie alt ist er jetzt?« fragte der Kaiser. »Die Schlacht bei Solferino. Das
war doch der mit dem Lesebuch?«
»Jawohl, Majestät!« sagte der Bezirkshauptmann.
Und der Kaiser erinnerte sich plötzlich genau an die Audienz des
merkwürdigen Hauptmanns. Und wie damals, als der sonderbare Hauptmann
bei ihm erschienen war, verließ Franz Joseph der Erste auch jetzt den Platz
hinter dem Schreibtisch, ging seinem Besucher ein paar Schritte entgegen und
sagte: »Kommen S’ doch näher!«
Der Bezirkshauptmann trat näher. Der Kaiser streckte seine magere,
zitternde Hand aus, eine Greisenhand mit blauen Äderchen und kleinen
Knoten an den Fingergelenken. Der Bezirkshauptmann ergriff die Hand des
Kaisers und verbeugte sich. Er wollte sie küssen. Er wußte nicht, ob er wagen
dürfte, sie zu halten oder seine eigene Hand so in die des Kaisers zu legen,
daß dieser in jeder Sekunde die Möglichkeit hätte, die seine zurückzuziehen.
»Majestät!« wiederholte der Bezirkshauptmann zum drittenmal, »ich bitte um
Gnade für meinen Sohn!«
Sie waren wie zwei Brüder. Ein Fremder, der sie in diesem Augenblick
erblickt hätte, wäre imstande gewesen, sie für zwei Brüder zu halten. Ihre
weißen Backenbärte, ihre abfallenden, schmalen Schultern, ihr gleiches
körperliches Maß erweckte in beiden den Eindruck, daß sie ihren eigenen
Spiegelbildern gegenüberständen. Und der eine glaubte, er hätte sich in einen
Bezirkshauptmann verwandelt. Und der andere glaubte, er hätte sich in den
Kaiser verwandelt. Zur linken Hand des Kaisers und zur rechten Herrn von
Trottas standen die zwei großen Fenster des Zimmers offen, auch sie noch
verhüllt von sonnengelben Vorhängen. »Schönes Wetter heut!« sagte plötzlich
Franz Joseph. »Wunderschönes Wetter heut!« sagte der Bezirkshauptmann.
Und während der Kaiser mit der Linken nach dem Fenster deutete, streckte
der Bezirkshauptmann seine Rechte in die gleiche Richtung aus. Und es war
dem Kaiser, als stünde er vor seinem eigenen Spiegelbild.
Auf einmal fiel es dem Kaiser ein, daß er vor seiner Abreise nach Ischl
noch viel zu erledigen hatte. Und er sagte: »Es ist gut! Es wird alles erledigt!
Was hat er denn angestellt? Schulden? Es wird erledigt! Grüßen Sie Ihren
Papa!«
»Mein Vater ist tot!« sagte der Bezirkshauptmann.
»So, tot!« sagte der Kaiser. »Schade, schade!« Und er verlor sich in
Erinnerungen an die Schlacht bei Solferino. Und er kehrte an seinen
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik