Seite - 265 - in Radetzkymarsch
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Diese Stunde war ihm überhaupt ganz vertraut, die Verwirklichung einer oft
vorgeträumten Begebenheit. Das Vaterland der Trottas zerfiel und
zersplitterte.
Daheim, in der mährischen Bezirkshauptstadt W., war vielleicht noch
Österreich. Jeden Sonntag spielte die Kapelle Herrn Nechwals den
Radetzkymarsch. Einmal in der Woche, am Sonntag, war Österreich. Der
Kaiser, der weißbärtige, vergeßliche Greis mit dem blinkenden Tropfen an der
Nase, und der alte Herr von Trotta waren Österreich. Der alte Jacques war tot.
Der Held von Solferino war tot. Der Regimentsarzt Doktor Demant war tot.
»Verlaß diese Armee!« hatte er gesagt.
Ich werde diese Armee verlassen, dachte der Leutnant. Auch mein
Großvater hat sie verlassen. Ich werd’s ihnen sagen, dachte er weiter. Wie vor
Jahren im Lokal der Frau Resi fühlte er den Zwang, etwas zu tun. Gab es da
kein Bild zu retten? Er fühlte den dunklen Blick des Großvaters im Nacken.
Er machte einen Schritt gegen die Mitte des Zimmers. Er wußte noch nicht,
was er sagen wollte. Einige sahen ihm schon entgegen. »Ich weiß«, begann er,
und er wußte noch immer nichts. »Ich weiß«, wiederholte er und trat noch
einen Schritt vorwärts, »daß Seine Kaiser-Königliche Hoheit, der Herr
Erzherzog Thronfolger, wirklich ermordet ist.«
Er schwieg. Er kniff die Lippen ein. Sie bildeten einen schmalen, blaßrosa
Streifen. In seinen kleinen, dunklen Augen glomm ein helles, fast weißes
Licht auf. Sein schwarzes, verworrenes Haar überschattete die kurze Stirn und
verfinsterte die Falte über der Nasenwurzel, die Höhle des Zorns, das Erbteil
der Trottas. Er hielt den Kopf gesenkt. An den schlaffen Armen hingen die
Fäuste geballt. Alle blickten auf seine Hände. Wenn den Anwesenden das
Porträt des Helden von Solferino bekannt gewesen wäre, hätten sie glauben
können, der alte Trotta sei auferstanden.
»Mein Großvater«, begann der Leutnant wieder, und er fühlte den Blick
des Alten im Nacken, »mein Großvater hat dem Kaiser das Leben gerettet.
Ich, sein Enkel, ich werde nicht zugeben, daß das Haus unseres Allerhöchsten
Kriegsherrn beschimpft wird. Die Herren betragen sich skandalös!« Er hob
die Stimme. »Skandal!« schrie er. Er hörte sich zum erstenmal schreien.
Niemals hatte er, wie seine Kameraden, vor der Mannschaft geschrien.
»Skandal!« wiederholte er. Das Echo seiner Stimme hallte wider in seinen
Ohren. Der betrunkene Benkyö torkelte einen Schritt gegen den Leutnant.
»Skandal!« schrie der Leutnant zum drittenmal.
»Skandal!« wiederholte der Rittmeister Jelacich.
»Wer noch ein Wort gegen den Toten sagt«, fuhr der Leutnant fort, »den
schieß’ ich nieder!« Er griff in die Tasche. Da der betrunkene Benkyö etwas
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik