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Doktor Skowronnek. Doktor Skowronnek war in Uniform, ein Oberarzt,
vormittags im Garnisonspital, nachmittags im Kaffeehaus. Er erhob sich, als
der Bezirkshauptmann eintrat, sah den wackelnden Kopf des Alten, das
Trauerband am Ärmel und wußte alles. Er nahm die Hand des
Bezirkshauptmanns und blickte auf den unruhigen Kopf und auf den
flatternden Zwicker. »Mein Sohn ist tot!« wiederholte Herr von Trotta.
Skowronnek behielt die Hand seines Freundes lange, ein paar Minuten. Beide
blieben stehen, Hand in Hand. Der Bezirkshauptmann setzte sich,
Skowronnek legte das Schachbrett auf einen anderen Tisch. Als der Kellner
kam, sagte der Bezirkshauptmann: »Mein Sohn ist tot, Herr Ober!« Und der
Kellner verbeugte sich sehr tief und brachte einen Cognac.
»Noch einen!« bestellte der Bezirkshauptmann. Er nahm endlich den
Zwicker ab. Er erinnerte sich, daß die Todesnachricht auf dem Teppich der
Kanzlei liegengeblieben war, stand auf und kehrte in die
Bezirkshauptmannschaft zurück. Hinter ihm folgte Doktor Skowronnek.
Herr von Trotta schien es nicht zu merken. Aber er war auch gar nicht
überrascht, als Skowronnek, ohne zu klopfen, die Kanzleitür aufmachte,
eintrat und stehenblieb. »Hier ist der Brief!« sagte der Bezirkshauptmann.
In dieser Nacht und in vielen der folgenden Nächte schlief der alte Herr
von Trotta nicht. Sein Kopf zitterte und wackelte auch in den Kissen.
Manchmal träumte der Bezirkshauptmann von seinem Sohn. Der Leutnant
Trotta stand vor seinem Vater, die Offiziersmütze mit Wasser gefüllt, und
sagte: »Trink, Papa, du hast Durst!« Dieser Traum wiederholte sich oft und
immer öfter. Und allmählich gelang es dem Bezirkshauptmann, seinen Sohn
jede Nacht zu rufen, und in manchen Nächten kam Carl Joseph sogar
einigemal. Herr von Trotta begann, sich also nach der Nacht und nach dem
Bett zu sehnen, der Tag machte ihn ungeduldig. Und als der Frühling kam und
die Tage länger wurden, verdunkelte der Bezirkshauptmann die Zimmer des
Morgens und am Abend und verlängerte auf eine künstliche Weise seine
Nächte. Sein Kopf hörte nicht mehr auf zu zittern. Und er selbst und alle
anderen gewöhnten sich an das ständige Zittern des Kopfes.
Der Krieg schien Herrn von Trotta wenig zu kümmern. Eine Zeitung nahm
er nur zur Hand, um seinen zitternden Schädel hinter ihr zu verbergen.
Zwischen ihm und Doktor Skowronnek war von Siegen und Niederlagen
niemals die Rede. Meist spielten sie Schach, ohne ein Wort zu wechseln.
Manchmal aber sagte einer zum andern: »Erinnern Sie sich noch? Die Partie
vor zwei Jahren? Damals haben Sie genausowenig aufgepaßt wie heute.« Es
war, als sprächen sie von Ereignissen, die vor Jahrzehnten stattgefunden
hatten.
Lange Zeit war seit der Todesnachricht vergangen, die Jahreszeiten hatten
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Buch Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Titel
- Radetzkymarsch
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1932
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 294
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Kategorien
- Weiteres Belletristik