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v>, pInsliies,
einzelne sah ich plötzlich jeden seiner Züge,
und die Teutlichteit des Teheuc' verkehrte sich
in das Gefühl der Annäherung
Auch ein zweites Mal erinnere ich mich
einer ähnliche,i Erscheinung, Mich interessierte
eine se!,r schöne Frau, die in Wien ans dem
sogenannten Stock-ain-Eisen-Platze in, dritten
Stucke wohnte, Eines Tages, als ich im Vor-
übergehen niich am Ende des Stephansplatzes,
daln'r noch in zienilicher Entfernung befaud,
erblickte ich nn einem Fenster des mir wichtigen
Hauses und dritten Stockwerkes etwas Weißes,
das ebensogut ein Mann, als eine Frau,
oder wohl gar ein Stück aufgehängte Wäsche
sein tonnte, Im nächsten Augenblicke aber sah
nl, die >^üge der Tvrau mit einer solchen Porträt«
ähnlichteil, das; ich sie unmittelbar ans Elfen-
hat in mir die Vcrmutnng hervorgebracht, daß
meine Vnirzsichtigleit nicht von einer Beschaffen»
des Angcnncrvs herrühre, die sich dnrch Auf-
>>>n,clt. Niese Schwache mei,ieo Auge^, den,
fchwache Gläser nicht helfen und das fcharfe
nicht verträgt, hat beigetragen, mich vom Be-
suche des Theaters immer mehr und mehr
und endlich ganz zu cutwühueu. Seit mehr
Auch an Gelegenheit, mit höhcrgestellten in
Beziehung zu tominen, fehlte es nicht. Man
wollte mich in die Teezirtel eine? Ministers,
Sla.iemann, glaub' ich, hieß er, einführen, was
die Minister liebe, Nein Fürsten Wittgrnstein,
damaligen Obernnfseher der Theater, meine
Aufwallung ,u> machen, wurde ich so oft auf-
gemnnlert, daß ich fast glaube, es lag die Ab'
f^chl vor, mich mit dem Vcrlincr Theater in
eine Schölle ist, der ich sehr gerne den 5?of
,na>I,en, die ich aber durchaus nicht heiraten
will. Auch, so sehr mir Berlin gefiel, hätte
die Schönheit der Natur rings um die öster-
reichische >taiferstadt, ist, wie in Wien zu wenig
Bildung, in Berlin zu viel. Nun hat aber die
deuische Bildung das eigentümliche, daß fie
war mir die Einstimmigkeit der litcrarischcu
Meiunngen znwider. Oft habe ich mich iu
Wien geslvnt, lo^nn mir jemand fagle, er finde
Goeil>e langweilig und Shakespeare roh, nicht
es war mir augeuelnu, daß ich bei meiner
Frage nicht die Antwort schon voraus wußte,
Nuu Iierrscht zwar in Frankreich, oder herrichte
geht fie aber ans dem Eharal'.er d^r Natiou,
wie eine Art Naturnotwendigkeit, hervor, in
^ f c h l d dagegen werden die Meinungen von VlUtrrien der Nation gegen ihre Natur —
wie schon der ewige Wechsel zeigt — gewalt»
tätig aufgedrungen,
dieser litcrarischen Feigheit der deutscheu
Nation, oder vielmehr des deutschen Publikums,
das heißt des sogenannten gebildeten Teiles
dingten Mangel eines starken Naturello, i:i
der Sprödigteit, um uicht zu sagen Stumpf-
heit der Auffassungsorgnne und der ihnen eut»
druck auf sie macht. Oder wenn dieser Ein»
und Abstraktionen hingezogen, die, da sie im
Geiste keine hinlängliche Rechtfertigung finden,
im Virklichen aber keinen Maßstab uud kein
biegenbild haben, mau ihnen geben uud nehmen
kann, wie man will. Sobald man scheinbar
ihren Verstand überzeugt hat, folgt das Naturell
Lebens Glück machten. Aber solche gedrückte
Organiflltioncn erfreuen fich auch, wenn man
ihuen Unterschiede bemerklich macht, die ihrer
eigenen Auffassung entgangen waren, nur fehlt
dann das geistige Band, die Erhebung der
Seele, die erst den eigentlichen ilunstgenuft
cht
Tiese Lenkbarkeit, gegenüber welcher das:
Es gefällt mir, oder es gefallt mir nicht, keinen
Grund ausmacht, ist, was ich die Feigheit des
deulfchcu Pnblitnms genannt habe. Ein feiges
Publikum aber erzeugt endlich notwendig eine
Als ich am Tage bor meiner Abreise von
Berlin von,,neiner Landsmännin, der Sängerin
Seidlcr, Abschied nahm, fand ich dort einen
flichsifchcu Grafen, der sich in den >lopf fetzte,
der fchon etwas alternden, aber noch immer
hübschen Frau den Hof zu machen. Er gab
ihr glänzende Geschenke, die sie dankbar an»
nahm, ohne daß er darum irgend weiter kam,
Älo er dörte, daß ich nach Leipzig gehe, erbot
er sich mir zum Neifcgcsellschaster, was ich
bereitwillig annahm, Tes andern Tages
machten wir uns auf den Weg, und zwar über
für di^ se Gelegenheit aufgespart hatte, Wir
verfolgten dort alle Eriuueruugen au Friedrich
den Großen, der mir immer widerlich war,
>,n Vergleich mit Napoleon, darum, weil seine
Größe gerade im Unglücke am leuchtendsten
Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Band II
- Titel
- Grillparzers sämtliche Werke
- Untertitel
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Band
- II
- Herausgeber
- Rudolf von Gottschall
- Verlag
- Hansa-Verlag
- Ort
- Hamburg
- Datum
- 1906
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.2 x 15.9 cm
- Seiten
- 552
- Schlagwörter
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik